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Sozialpolitik statt Geopolitik
Wirtschaftssanktionen gegen Russland – zu teuer und wirkungslos? Oder nicht der Rede wert? Versuch einer Klärung
Angesichts von Ukrainekrieg, Inflation und Protesten sucht die Linkspartei nach einer geschlossenen Position. »Der wichtige Unterschied ist: Rechte reden zum ‚heißen Herbst› über Geopolitik: von fremden Regierungen geopferten Völkern, Sanktionen, Nord Stream 2«, schrieb Ex-Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler diese Woche auf Twitter. »Linke reden zum ‚heißen Herbst› über Sozialpolitik: Klimageld statt Gasumlage, Übergewinnsteuer, Preisdeckel, 9-Euroticket.« Mit der Devise »Sozialpolitik statt Geopolitik« will man sich nicht nur von der AfD abgrenzen, sondern auch von Linken wie Sahra Wagenknecht, die den »Wirtschaftskrieg« gegen Russland ablehnen und stattdessen Verhandlungen fordern. Im Zentrum der Differenzen scheinen die Wirtschaftssanktionen des Westens zu liegen – ihr Zweck und ihre Wirkung.
Derzeit verweigern die Kriegsparteien in der Ukraine noch Gespräche. Irgendwann aber wird es zu Verhandlungen kommen. Mit Krieg, Waffenlieferungen und Wirtschaftssanktionen kämpfen die Kontrahenten derzeit um die Ausgangsbedingungen für diese Verhandlungen: Wer muss welche Zugeständnisse machen, wer hat hier welche Machtposition? Eine Waffe in diesem Kampf ist für die russische Regierung die Drosselung der Gaslieferungen, die die Inflation in die Höhe treiben und in Europa zu einer Rezession führen dürften.
Der Gas-Stopp dient einem bestimmten Ziel: Mit ihm »hofft Putin, die Sanktionen loszuwerden«, erklärt Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Die AfD und einige Linke-Politiker*innen fordern daher, die Sanktionen aufzuheben, damit das Gas wieder fließt und die Inflation sinkt. Der »entsetzliche Wirtschaftskrieg gegen Russland« müsse beendet werden, forderte Wagenknecht und bekam dafür viel Kritik.
Dass es sich um einen Wirtschaftskrieg des Westens handelt, kann allerdings kaum bestritten werden. Laut US-Präsident Joe Biden hat der Westen »beispiellose Sanktionen« gegen Russland eingeführt, die »in ihrer Gesamtheit die Potenz entfalten, Schäden zuzufügen, die der Anwendung militärischer Macht gleichkommen«.
Beschlossen wurden diese Sanktionen, ohne dass ihr Ziel klar definiert worden wäre. Weniger ging es wohl darum, einen unverzüglichen Abzug russischer Truppen aus der Ukraine zu erreichen. Ziel der Sanktionen war eher, Russland für den Einmarsch zu bestrafen, den Preis für die Invasion in die Höhe zu treiben und Russland dauerhaft zu schwächen. »Wir beschneiden mit unseren Sanktionen langfristig nicht nur Moskaus wirtschaftliche, sondern vor allem auch seine militärischen Fähigkeiten«, schrieb Außenministerin Annalena Baerbock diese Woche.
Den russischen Gegensanktionen per Gas-Stopp sieht man sich derzeit hilflos ausgeliefert. »An der hohen Inflation kann die Bundesregierung nichts ändern, weil die Hauptursache der Krieg in der Ukraine ist«, so Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Ganz korrekt ist das allerdings nicht. Da Moskau mit dem Gas-Stopp den Westen zur Aufgabe der Sanktionen erpressen will, würde diese Aufgabe das Gas voraussichtlich wieder fließen lassen. Denn jede Erpressung kennt eine Gegenleistung. Wer sich nicht erpressen lassen will, und dafür gibt es Gründe, muss den Preis zahlen: Inflation und Rezession.
Gegner der Sanktionen und Befürworter einer weicheren Haltung gegenüber Moskau führen auf dieser Basis zwei Argumente an: Der AfD ist der Wirtschaftskrieg gegen Russland schlicht zu teuer. »Wir sollen auf günstiges Erdgas durch Nord Stream 1 und 2 verzichten, weil die Bundesregierung Russland ökonomisch aushungern will«, so Tino Chrupalla. Die AfD fordert daher eine »strikt interessengeleitete Realpolitik« statt »ideologischer Verbohrtheit«. Ihre Sorge um die deutsche Wirtschaft präsentiert die AfD dabei als Sorge um die Armen, die ihre Gasrechnung nicht mehr zahlen können.
Wagenknecht führt ein weiteres Argument an: Die Sanktionen beendeten nicht den Krieg und richteten in Russland keinen Schaden an. Sie seien vielmehr »ein Geschenk« an Russland, »Putins Taschen sind durch die Sanktionen jetzt voller denn je und hierzulande gingen die Lichter aus«. Dieses Argument ist aber mindestens fragwürdig. Richtig ist, dass die hohen Energiepreise Russland bislang monatlich fünf Milliarden mehr an Öleinnahmen beschert haben als letztes Jahr. Der Gaskonzern Gazprom hat im ersten Halbjahr 2022 einen Rekordgewinn verbucht.
Wahr ist aber auch: Die russische Wirtschaft ist nach offiziellen Angaben im Juli um 4,3 Prozent zum Vorjahreszeitraum geschrumpft, für das Gesamtjahr prognostiziert die Weltbank ein Minus von sechs Prozent. Die Reallöhne fallen seit April, die Inflation liegt mit 15 Prozent fast doppelt so hoch wie hier zu Lande. Für Deutschland hingegen, wo laut Wagenknecht »die Lichter ausgehen«, wird für 2022 ein Wirtschaftswachstum von 1,3 Prozent erwartet und für 2023 ein leichtes Minus von 0,5 Prozent.
Wichtiger aber noch: Zu den kurzfristigen Folgen der Sanktionen dürften sich langfristige gesellen, die dem Ziel entsprechen, Russlands Wirtschaft dauerhaft zurückzuwerfen. Denn all die Mehreinnahmen nützen Moskau nur bedingt, wenn es notwendige Güter nicht einführen kann. Und dafür sorgen die Exportbeschränkungen des Westens insbesondere für Hochtechnologie, auf die Russlands Industrie und Militärmaschinerie angewiesen ist.
Russlands Importe sind in den ersten Monaten nach Beschluss der Sanktionen kollabiert. Inzwischen ziehen sie wieder an, doch handelt es sich hier vor allem um Konsumgüter. Die industrielle Produktion dagegen kann ohne US-amerikanische Computerchips, ohne deutsche Maschinen und westliches Kapital kaum aufrechterhalten werden. Eine Studie verschiedener internationaler Ökonomen stellte im Juli einen Produktionsrückgang bei Autos um 75 Prozent und von Autoteilen um 54 Prozent fest. »Russlands industrielle Basis arbeitet offensichtlich nur zu einem Bruchteil ihrer Kapazität. Kein Ölpreishoch wird hier Rettung bringen.«
Laut Janis Kluge von der SWP erwartet Russland »kein plötzlicher Zusammenbruch. Stattdessen wird es immer wieder zu Knappheiten kommen, weil die Lagerbestände von westlichen Gütern langsam erschöpft sind.« Auch der Maschinenpark der russischen Industrie könne in vielen Unternehmen nicht mehr erneuert werden und verschleiße nach und nach. Da die Kooperation mit dem Westen niemals vollständig ersetzt werden könne, »wird Russland in den kommenden Jahren deutlich ärmer und technologisch rückständiger«. Und darin dürfte das Ziel der Sanktionen liegen, weniger in einem unmittelbaren Rückzug Russlands aus der Ukraine.
Die Linke hat beschlossen, statt über Geopolitik und Sanktionen über Sozialpolitik zu reden. Das ist einerseits richtig und nötig. Implizit bedeutet dies allerdings die Zustimmung oder zumindest Duldung der real stattfindenden Geopolitik, deren Kosten die Linke nur anders verteilt sehen will. Die Kritik an Baerbocks »wertegeleiteter Außenpolitik« überlässt sie damit der AfD und Personen wie Wagenknecht.
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