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»Die Veränderung von Lehrplänen ist ein dickes Brett«

VWL-Studentin Friederike Reimer hält die überwiegend gelehrte vermeintliche Wertfreiheit für eine gefährliche Mischung

  • Sebastian Thieme
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Lehre an deutschen Universitäten ist so plural wie ihre Einrichtung.
Die Lehre an deutschen Universitäten ist so plural wie ihre Einrichtung.

Wenn es um das Thema »Wirtschaftsethik« geht, sehe ich eine gewisse Diskrepanz. Wirtschaftsethische Fragen werden immer wieder aufgeworfen oder berührt, Vertreter*innen der Pluralen Ökonomik fordern mehr Wirtschaftsethik, gleichzeitig halten sich das Engagement, die Unterstützung für wirtschaftsethische oder sozialökonomische Perspektiven in Grenzen.

OXI – Wirtschaft anders denken

Nicht-ökonomistische Ethik – was ist das denn? Verteilung, Mindestlohn, Care, Gerechtigkeit, Suffizienz, Subsistenz, normative wirtschaftsethische Fragen, geschlechterbewusste Wirtschaftsethik … Klingt alles ziemlich kompliziert.

In der nächsten Ausgabe wollen wir, so der Ehrgeiz, verschiedene wirtschaftsethische Konzepte möglichst allgemeinverständlich vorstellen. Denn klar ist: Wirtschaft ohne ethische Grundsätze ist dem Menschen nicht sonderlich zugewandt.

Die Ausgabe kommt am 9. September zu den Abonnent*innen, am 10. September liegt sie für alle, die ein »nd.DieWoche«-Abo haben, exklusiv bei.

Im Großen und Ganzen stimme ich zu, dass beispielsweise die Forderung nach mehr Pflichtmodulen in ökonomischer Ideengeschichte gegenüber der Wirtschaftsethik in den Vordergrund rückt. Trotzdem nehme ich wahr, dass die wirtschaftsethische Perspektive oft mitgedacht wird und bei vielen »Pluralos« präsent ist, wenn auch nicht immer explizit. Auch in der Vorbereitung für dieses Interview habe ich gemerkt, wie viel implizites Wissen über wirtschaftsethische Konzepte bei mir vorhanden ist, obwohl ich mich eher am Rande damit auseinandergesetzt habe. Vieles ist offenbar einfach durch die plurale Community in mich »reingeschwappt«. Das kann den Eindruck bestätigen und erklären – wenn vor allem jene Pluralos, die noch nicht so lange dabei sind, ihr Wissen um Normativität gar nicht explizit als Wirtschaftsethik benennen können.

Warum wäre es sinnvoll, spielten ethische Fragen grundsätzlich eine größere Rolle in der VWL?

Dazu kann ich direkt meine eigene Erfahrung aus dem Studium schildern: Neben den Grundannahmen der Modelle, die schnell als unrealistische, aber notwendige Abstraktionen abgefrühstückt werden, wird in manchen Veranstaltungen durchaus ein fragwürdiges, ideologisch geprägtes Menschenbild propagiert. Das wird einfach unreflektiert stehen gelassen. So ist es kaum verwunderlich, dass es Studien gibt, die feststellen, dass VWL-Studierende signifikant weniger soziale Empathiefähigkeit besitzen. Die Studierenden, die in diesen Kursen sitzen, tragen das Gelernte nach außen und gestalten ihre Welt mit dem kalkulierenden, rein von materiellen Anreizen gelenkten Menschenbild im Hinterkopf. Dieser Effekt der Performativität der Wissenschaft wirkt umso stärker, wenn er weder reflektiert noch gelehrt wird. Die vermeintliche Wertfreiheit der VWL gepaart mit den impliziten Weltbildern halte ich für eine besonders gefährliche Mischung.

Wie positioniert sich das »Netzwerk Plurale Ökonomik« (NPÖ) dazu?

Ich sehe durchaus eine Nachfrage nach wirtschaftsethischen Perspektiven, die besonders in den vielen hitzigen Debatten zu den Herausforderungen unserer Zeit Orientierung schaffen können.

Ganz konkret werden in unserem Impulspapier von 2020, eine Art aktueller Forderungskatalog, Pflichtmodule in Wirtschaftsethik, Wissenschaftstheorie und Ideengeschichte gefordert. Es gibt auch definitiv eine Präsenz von wirtschaftsethischen Reflexionen. So fanden auf der letzten Klausurtagung in Kiel einige spannende Diskussionen zum Thema Normativität, Umgangsformen in der VWL und Vorträge zu Datenkritik statt. Auf unserer Lernplattform »Exploring Economics« gibt es einen Grundlagentext zur Sozialökonomie und mehrere Materialien zu Wirtschaftsethik. Es wäre an der Zeit, diese Perspektive mehr ins Netzwerk zu tragen und das vorhandene Wissen explizit zu machen. Vielleicht auf einer der nächsten Mitgliederversammlungen!

Aus dem Umfeld des Netzwerks Plurale Ökonomik gab es 2016 eine Studie, laut der an deutschen Universitäten nur 1,36 Prozent der Lehrpläne reflexive Inhalte enthielten, also ökonomische Ideengeschichte, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie sowie Wirtschaftsethik. Wie sieht es in Leipzig aus?

Leipzig als Standort für VWL steht leider nicht gerade für ein hohes Maß von Pluralität. Von einzelnen Wahlmodulen im Master und einigen sympathisierenden wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen abgesehen, gibt es lediglich ein Wahlmodul für Wirtschaftsgeschichte und ökonomische Ideengeschichte.

Ich habe dieses Modul selbst nicht belegt, aber ganz klar fällt auf, dass es keinen eigenen Lehrstuhl (mehr) für diese Perspektiven gibt, sondern die Veranstaltung von Professoren mit ganz anderen Forschungsschwerpunkten unterrichtet wird. Ideengeschichte ist ja auch nicht gleich Ideengeschichte. Es gibt verschiedene Ansätze der Geschichtsschreibung und -erzählung, die dazu führen können, dass ein solches Modul eben nicht immer im Sinne der Reflexion ist, die wir fordern.

Eine weitere Option, die sozialwissenschaftliche Perspektive ins eigene (Mainstream-)Studium zu holen, ist auch immer ein Blick an andere Fakultäten. Ich hatte das Glück, ein Modul zu Wirtschaftsgeografie zu belegen und konnte es auch im fachspezifischen Wahlbereich anerkennen lassen. Dort wurde unter anderem die Performativität der Wissenschaft thematisiert: Wissenschaft, die die Welt formt. Eine wahre Wohltat, den Zugang zu solchen Themen auch mal durchs Studium zu bekommen und sich nicht alles in der Freizeit zusätzlich anlesen zu müssen.

Ist in den vergangenen Jahren etwas besser geworden?

An den meisten Hochschulen ist es wie in Leipzig – vereinzelte Wahlmodule, mit Glück eine Fächerkooperation mit anderen Sozialwissenschaften. Die lokalen Unterschiede hängen von verschiedenen Faktoren ab: einzelne Lehrstühle, die einen ideengeschichtlichen Fokus setzen, die erwähnten Fächerkooperationen, vereinzelt haben Lokalgruppen für plurale Ökonomik eigene Ringvorlesungen ins Leben gerufen, um den Druck für mehr plurale Lehre zu erhöhen. Die Veränderung von Lehrplänen ist ein dickes Brett: Im Studierendenleben haben die sechs Jahre seit 2016 eine ganz andere Dimension als im Universitätsbetrieb. Die wenigsten kritischen Studierenden sind über diesen Zeitraum an nur einer Universität und Generationswechsel erschweren eine konstante plurale Präsenz an den Hochschulstandorten. Umso wichtiger, dass es das Netzwerk, die »Pluralos« gibt. Was die konkreten pluralen Alternativen angeht, haben sich in den letzten Jahren einige Standorte hervorgetan, an denen sich Studiengänge mit pluralen Ansprüchen etablieren. Dort gibt es Veranstaltungen mit wirtschaftsethischem und sozialwissenschaftlichem Bezug, auch wenn es meines Wissens keine pluralen Studiengänge mit diesem Schwerpunkt gibt.

Wie ließe sich diese Gegenwart verändern? 2012 hatte das NPÖ ja noch gefordert, dass 20 Prozent der Lehrstühle »heterodox« besetzt sein sollten. Ist das noch aktuell?

Auch im Impulspapier von 2020 ist diese Forderung zu finden! Sowohl für das NPÖ als auch für die Lokalgruppen an den Unis stellt sich also die Frage, wie dorthin kommen. In den Lokalgruppen ist dieser Prozess sehr dezentral: Während einige Gruppen einen sehr starken hochschulpolitischen Fokus setzen und eng mit ihren Fachbereichen zusammenarbeiten, suchen andere eher den inhaltlichen Austausch und organisieren Alternativveranstaltungen wie Lesekreise und Ringvorlesungen. Je nach Ausgangslage ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten: In Jena wurde aktiv der Kontakt in die Politik gesucht, um ähnlich wie in Flensburg die Einrichtung einer Professur für plurale Ökonomik durchzusetzen. Das wäre in Leipzig allein schon wegen der Regierungskonstellation in Sachsen nicht möglich. Dafür haben wir an der Uni und auch außerhalb viele kritische Gruppen und Initiativen vor Ort, mit denen wir uns in Zukunft besser vernetzen wollen. Ich sehe besonders im dezentralen Ansatz der Lokagruppe eine enorme Stärke, die durch überregionale Vernetzung noch mal gestützt wird. Auch wenn es jetzt erst wieder die ersten größeren Netzwerktreffen in Präsenz gibt.

Auf deutschlandweiter Ebene wächst das Netzwerk auch als Organisation, die im wirtschaftspolitischen Umfeld wahrgenommen wird. Neben dem Kernteam, das nach innen organisiert und nach außen vertritt, gibt es zwei größere Projekte, die ihren eigenen Ansatz zur Pluralisierung der Wirtschaftswissenschaften verfolgen. Konkret sind das die Lehr-Lern-Plattform »Exploring Economics« und das Zertifikatsprojekt, das als eigener Bildungsakteur auftritt. Somit ist das NPÖ nicht nur Bewegung, sondern auch Organisation und Plattform für neue Ideen.

Was sind für dich gerade die spannenden ökonomischen Themen, mit denen du dich beschäftigst?

Mein Interesse und meine Motivation für VWL sind sehr angetrieben von der Frage nach einer besseren Welt für alle und in diesem Zuge bin ich beim Geld- und Finanzsystem gelandet. Auch wieder sehr unterbelichtet im Studium. Ich interessiere mich aktuell sehr für die Arbeit von beispielsweise Daniela Gabor zu Makrofinanzsystemen und welche Finanzierungsansätze für die grüne Transformation sich auf welche Weise auswirken. Gerade bin ich auf der Suche nach einem Bachelorarbeitsthema in diesem sehr großen, spannenden Themenkomplex – gar nicht so einfach, aber ich bin sehr dankbar für die plurale Ökonomik, die mir diese Welt der großen und kleinen wichtigen Fragen überhaupt erst mal eröffnet hat.

Friederike Reimer, Jahrgang 1998, studiert an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig Ökonomik und ist im »Netzwerk Plurale Ökonomik« aktiv. Sie ist über ein Buch auf die Plurale Ökonomik gestoßen, nahm während der Pandemie alle Online-Vorträge zum Thema mit und ist Mitbegründerin der wiederbelebten Leipziger Lokalgruppe Plurale Ökonomik. Mit ihr sprach Sebastian Thieme.

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