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Der Berg wächst
Wohnungslosigkeit und Gewaltbetroffenheit von Frauen sollen stärker im Zusammenhang betrachtet werden
Britta Marré ist Sozialarbeiterin in der Notübernachtung für Frauen »Mitten im Kiez«. Eine Notübernachtung ist kein Frauenhaus, bei dem die Adresse geheim ist. Die Notübernachtung ist wirklich nur für die Übernachtung da, tagsüber müssen sich die Frauen, die keinen Ort haben, an dem sie zu Hause sind, woanders aufhalten. Marré berichtet, wie groß die psychische Belastung vieler Frauen ist, die sie tagtäglich erlebt. Es gehe bis hin zum Erleben einer anderen Realität. Viele Frauen seien in schlechter gesundheitlicher Verfassung, sagt die Sozialarbeiterin. Die Herausforderungen seien in der Pandemiezeit umso größer gewesen, unter anderem, weil positiv getestete Frauen abgewiesen werden mussten. „Mitten im Kiez» hat keine Quarantäne-Station, mehrere Frauen müssen sich immer ein Zimmer teilen.
Marré spricht auf der Fachveranstaltung »Wohnunglose Frauen* im Kontext von Gewalt – von Gewalt betroffene Frauen* im Kontext von Wohnungslosigkeit«. In den Räumlichkeiten der Arbeiterwohlfahrt in Kreuzberg tauschen sich dazu einen Tag lang Expertinnen aus Wissenschaft und Praxis aus. Manche sind seit über dreißig Jahren dabei, andere erst seit ein paar Jahren aktiv. Die Fachveranstaltung will das Thema der Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen oder gefährdet sind und dadurch wohnungslos werden, verzahnen mit dem Thema wohnungsloser Frauen, die von Gewalt betroffen sind.
Diskutiert wird hier insbesondere, welche Bedeutung die Istanbul-Konvention, wie das 2011 ausgearbeitete »Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt« genannt wird, für die Situation von gewaltbetroffenen wohnungslosen Frauen hat. Die Konvention ist das erste völkerrechtlich verbindliche Instrument, das Gewalt gegen Frauen als eine Form der Diskriminierung und als Menschenrechtsverletzung erklärt, der eine strukturelle Diskriminierung von Frauen zugrunde liegt.
In Deutschland ist die Istanbul-Konvention 2018 in Kraft getreten. Dabei wird die Konvention so ausgelegt, dass Lesben, Schwule, Bisexuelle sowie trans- und intergeschlechtliche Personen vom Schutzbereich der Istanbul-Konvention genauso umfasst werden. International ist das ein Streitthema, das dazu führte, das die Türkei dieses Jahr aus der Konvention wieder austrat und die polnische Regierung diesen Schritt zumindest ankündigte.
Seitdem die Istanbul-Konvention in Kraft getreten ist, habe sich in Berlin schon einiges getan, sagt Carola von Braun im Gespräch mit „nd»: »Klar ist aber auch, ein großer Berg liegt vor uns und dieser Berg wächst.« Der Berliner Senat habe in den letzten Jahren zwar die Anzahl der Unterkünfte für gewaltbetroffene Frauen gesteigert, das müsse man anerkennen, jedoch steige auch die Zahl der Bedürftigen, sagt die 1942 geborene und bekannte FDP-Politikerin.
Von Braun ist Gründerin und heute Sprecherin der »Überparteilichen Fraueninitiative Berlin – Stadt der Frauen e.V.« (ÜPFI). Der Verein arbeitet seit 1992 zum Thema Wohnungslosigkeit von Frauen in Berlin. Das Bündnis versucht seitdem, politisch engagierte Frauen verschiedener politischer Richtungen zusammenzubringen, darunter Parlamentarierinnen des Berliner Abgeordnetenhauses, Frauen aus der Berliner Landesregierung, aus Gewerkschaften, Frauenprojekten, der Wissenschaft und weiteren Bereichen des öffentlichen Lebens. Das Netzwerk soll zwischen Zivilgesellschaft und Parlament vermitteln.
Bisher habe man bei der Hilfe für gewaltbetroffene Frauen die wohnungslosen Frauen zu wenig berücksichtigt, erzählt Elke Ihrlich. Ihrlich hat die Bereichsleitung der offenen Sozialarbeit im Sozialdienst katholischer Frauen inne und ist Mitglied im ÜPFI-Beirat Wohnungslosennotfallhilfe. »Wir wollen die Politik auffrischen mit der Praxis«, sagt Ihrlich. Die Istanbul-Konvention mache es möglich, die Themen mehr zu verzahnen und wohnungslose Frauen einzubeziehen.
Von Seiten der Politik sind Staatssekretärin für Integration, Arbeit und Soziales Wenke Christoph (Linke) und Staatssekretärin für Wissenschaft und Gleichstellung Armaghan Naghipour (parteilos) zur Fachtagung gekommen. Im Berliner Koalitionsvertrag ist festgeschrieben, dass sich die rot-grün-rote Koalition für die vollständige Umsetzung der Istanbul-Konvention einsetzen will. Aus diesem Grund ist ein weiteres Frauenhaus geplant – es wäre dann das zehnte in Berlin. Weitere Krisenwohnungen, die auch bei häuslicher Gewalt in queeren Partnerschaften greifen, sollen eingerichtet werden.
Aktuell stehen in Berlin für akut gefährdete Frauen und ihre Kinder insgesamt 422 Schutzplätze in Frauenhäusern zur Verfügung. Besonders vulnerabel sind gewaltbetroffene Frauen mit psychischen Erkrankungen, mit Suchtthematik sowie Frauen mit vielen Kindern. Insbesondere jugendliche Söhne sind ein Problem. Sie können oft nicht aufgenommen werden. Der Berliner Landesaktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention von Dezember 2021 sieht deswegen die Weiterentwicklung des achten Frauenhauses vor, das auch Söhne über 12 Jahre und Frauen mit mehreren Kindern unterbringen soll.
Als Instrumente der Prävention nennt der Landesaktionsplan Täterarbeit, Empowerment von Betroffenen, Öffentlichkeitsarbeit und Information, Bildung sowie Aus- und Fortbildungen. Dabei werden als Leitziele die Veränderungen von gesellschaftlichen Verhaltensmustern, die Beseitigung von Vorurteilen und Vorstellungen der Unterlegenheit der Frau, die Beseitigung von gesellschaftlichen Rollenzuweisungen für Frauen und Männer sowie die Stärkung der Rechte der Frauen genannt.
Wie dringend diese Themen sind, hat zuletzt ein Femizid in Pankow im April gezeigt. Eine 29-jährige Frau und sechsfache Mutter aus Afghanistan war von ihrem getrennt lebenden Ehemann erstochen worden. Das Familiengericht Pankow hatte den Antrag der Frau auf ein Kontakt- und Näherungsverbot für den Mann nicht schnell genug umsetzen können.
Ressourcenmangel ist sowohl beim Gewaltschutz als auch bei der Wohnungslosenhilfe ein Problem. Bei gleichzeitig steigenden bürokratischen Hürden herrscht großer Personalmangel. Heike Herold, Geschäftsführerin der Frauenhauskoordinierung e.V., beklagt auf der Fachtagung das »versäulte Denken und Handeln«, das nicht an den Bedarfen der Frauen und ihrer Kinder ansetze. Hier müsse die Koordination verbessert werden.
Laut Zahlen der BAG Wohnungslosenhilfe aus dem letzten Jahr waren im Jahr 2020 bundesweit 256 000 Menschen wohnungslos, Geflüchtete nicht mitgezählt. Das Problem verschärft sich weiter. Laut Geschäftsführerin Werena Rosenke hat sich der Anteil der Klient*innen der Wohnungslosenhilfe, die wohnungslos sind, obwohl sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen, innerhalb der letzten zehn Jahre verdoppelt. Laut Schätzungen sind ein Drittel der volljährigen Wohnungslosen weiblich, was 78 000 wohnungslosen Frauen entspricht. Acht Prozent der Wohnungslosen sind Kinder und minderjährige Jugendliche, insgesamt 20 000 Menschen.
In Berlin leben Schätzungen zufolge 2500 Frauen auf der Straße. Die Zahl lässt sich nicht bestätigen. Oft verharren Frauen eher in gewaltvollen Beziehungen als obdachlos zu werden, erklären auch die Expertinnen. Sie hätten zum Beispiel Angst, dass ihnen ihre Kinder weggenommen werden oder sie ihren Aufenthaltsstatus verlieren und kommen so gar nicht im Hilfesystem an. Verschärft wird das Thema durch die ohnehin drastische Wohnungsknappheit in Berlin.
»Dass Frauen ein Recht darauf haben, keine Gewalt zu erleben, muss gesellschaftlich noch mal neu verankert werden«, sagt Elke Ihrlich. Das sei in den 80er Jahren passiert, genauso in den 90er Jahren und müsse eben immer wieder politisch neu durchgesetzt werden. Dazu gehöre, Frauen zu ermöglichen, in ihren Wohnungen zu bleiben.
»Über eines müssen wir uns im Klaren sein«, fügt ÜPFI-Sprecherin von Braun hinzu: »Es ist ein Problem, das quer durch alle sozialen Schichten geht. Wir haben auch Fälle gehabt von Frauen, die wirklich aus guten Verhältnissen kamen und die auf der Straße gelandet sind. Erst ist sie bei Freunden untergekommen und dann noch mal bei Freunden und dann irgendwann ist auch der großzügigste Freundeskreis ausgeschöpft. Dann ist auch diese Frau auf der Straße. Das ist ein Problem, das die gesamte Gesellschaft betrifft.«
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