Die Insel und die Scham

Heinz Reinefarth war zwölf Jahre lang Bürgermeister auf Sylt. Eine Ausstellung erinnert an den Umgang mit dem NS-Kriegsverbrecher

  • René Heilig
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Ausstellung in Schleswig zeigt Heinz Reinefarth als SS-General und als Sylter Bürgermeister. Begangene Verbrechen hinderten ihn nicht daran, in der Nachkriegszeit Karriere zu machen.
Die Ausstellung in Schleswig zeigt Heinz Reinefarth als SS-General und als Sylter Bürgermeister. Begangene Verbrechen hinderten ihn nicht daran, in der Nachkriegszeit Karriere zu machen.

Vor der 3. Großen Jugendkammer des Landgerichtes Itzehoe muss sich derzeit eine 97-Jährige wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11 000 Fällen verantworten. Irmgard Furchner war zwischen 1943 und 1945 – also noch im juristischen Jugendalter – Sekretärin in der Kommandantur des Konzentrationslagers Stutthof. Im Dienst der SS-Totenkopfverbände soll sie bei der systematischen Tötung von Gefangenen geholfen haben. Am Schreibtisch als Zivilkraft. Nach dem Ende des Krieges zog sie nach Schleswig-Holstein, arbeitete weiter als Schreibkraft und lebt nun im betagten Alter in einem Pflegeheim im Landkreis Pinneberg.

Zum Prozessbeginn am 30. September 2021 war die Angeklagte nicht erschienen. Ihre Flucht endete aber rasch. In der vergangenen Woche wurde Furchner zum 27. Mal für wenige Verhandlungsstunden in den Sitzungssaal gerollt. Abermals verbarg sie ihr Gesicht und schwieg. Jüngst musste ein inzwischen 95-jähriger einstiger Wachmann des Lagers aussagen. Bruno Dey wurde bereits vor zwei Jahren rechtskräftig wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 5000 Fällen verurteilt und erhielt eine Jugendstrafe von zwei Jahren Haft auf Bewährung.

Angeklagt sind die letzten noch lebenden Rädchen eines in der Menschheitsgeschichte wohl beispiellosen Massenmordsystems – und manche fragen sich, was ein Richterspruch überhaupt bringt, wenn Alter und Krankheiten einen Haftantritt kaum wahrscheinlich machen. Sollte man denen, die sich in ihrer Jugend allzu willig in eine Gewaltmaschinerie einpassten, nicht einfach erlauben, ihr Leben zu Ende zu bringen? Sie zweifeln daran, ob ein Gerichtssaal überhaupt der geeignete Ort ist, um eine individuelle Verstrickung in der Geschichte zu klären, und sie wollen den Sinn einer Verurteilung erfahren, ob es um Vergeltung und Abschreckung geht oder ob die Resozialisierung ein Grundgedanke ist. Diese vielen Fragen scheinen geradezu absurd. Nicht nur aus Respekt vor den Opfern und ihren Hinterbliebenen ist eine demokratische und rechtsstaatliche Gesellschaft dazu verpflichtet, Unrecht und Verantwortlichkeit dafür zu benennen, zu beurteilen und in Person zu verurteilen.

Jahrzehntelang hat sich die Bundesrepublik Deutschland vor ihrer Urteilspflicht gedrückt und damit allenfalls nur halbherzig mit der Barbarei des NS-Staates gebrochen. Die Justiz war – mit wenigen Ausnahmen – ein williges Instrument beim Schutz der Täter. Auch dieses Verhalten macht die in Itzehoe erhoffte Geste der Gerechtigkeit, die in letzter Minute versucht wird, so besonders.

Einen nicht sehr engagierten Versuch, mit ihrer Nachkriegsgeschichte ins Reine zu kommen, hat auch die Gemeinde Sylt unternommen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Nordseeinsel übervoll mit Flüchtlingen aus den einstigen deutschen Ostgebieten. Rund 14 000 Menschen ließen sich auf der Insel nieder. Arbeit gab es anfangs kaum, als aber 1946 die Insel-Sperre aufgehoben wurde, kamen die Touristen wieder. Die Insel-Bewohner ergriffen die Chance und profitierten in besonderer Weise von dem bald einsetzenden Wirtschaftswunder. Dass Wohlstand auf der Insel wuchs, ist zum Gutteil einem Mann zu danken, der seinen Nachbarn 1958 ein Gedicht schenkte, das die »Sylter Rundschau« druckte. Darin heißt es: »Gott möge den Segen uns nicht versagen / Wenn wir wieder neue Vorhaben wagen. / Ein Jeder sei glücklich auf seine Art! / Dies wünscht Bürgermeister Reinefarth.«

Heinz (eigentlich Heinrich) Reinefarth, geboren 1903 in Gnesen bei Posen, dem heutigen Poznan, genoss »bei Freunden und früheren politischen Gegnern … immer ein gutes Ansehen«. »Wegen seiner Bescheidenheit und steten Hilfsbereitschaft«, schrieb die »Sylter Rundschau« zwei Tage nach Reinefarths Tod am 9. Mai 1979. »Sein erfolgreiches Wirken für die Stadt Westerland wird unvergessen bleiben.«

Doch Reinefarth war ein Kriegsverbrecher, und es dauerte dreieinhalb Jahrzehnte, bis sich die Gemeinde sichtbar von ihrem Wohltäter distanzierte. Nach langen Debatten brachte man 2014 vor dem Rathaus in Westerland, in dem Reinefarth mehr als zehn Jahre regierte, eine Tafel an. Sie ist den Opfern des Warschauer Aufstandes gewidmet, der im August 1944 begonnen hatte und von den deutschen Besatzern auf brutalste Art niedergeschlagen wurde. »Mehr als 150 000 Menschen werden ermordet, unzählige Männer, Frauen und Kinder geschändet und verletzt«, informiert die Gemeinde und erklärt: »Heinz Reinefarth, von 1951 bis 1963 Bürgermeister von Westerland, war als Kommandeur einer Kampfgruppe mitverantwortlich für dieses Verbrechen. Beschämt verneigen wir uns vor den Opfern und hoffen auf Versöhnung.«

Seit Mitte August wirft eine Ausstellung im Landesarchiv in Schleswig einen detaillierten Blick auf das Leben Reinefarths. Sie entstand in Kooperation mit dem Pilecki-Institut in Warschau und verdeutlicht auf knappem Raum und mit einfachen Mitteln die Notwendigkeit der auf Sylt geäußerten Scham. Zugleich macht die Präsentation von Fotos und Dokumenten klar, wie schwer eine Versöhnung ist. Schon deshalb wünscht man der Ausstellung, die noch bis zum März kommenden Jahres im Prinzenpalais der Stadt zu sehen ist, mehr Zuspruch, trägt sie doch zur Aufarbeitung der Nachkriegsgeschichte bei.

Reinefarth, dieser Prototyp eines »Ariers«, der Typ mit kantigem Gesicht und kaltem Blick, dessen spärliches Haar stets streng gescheitelt war, war kein kleines Rädchen in der Nazi-Maschinerie. Als Anhänger der völkischen Bewegung der 1920er Jahre, als Freikorps-Kämpfer, als Intellektueller, als NSDAP- und SA-Mitglied stieg er während des Zweiten Weltkrieges in der SS-Hierarchie auf. Reinefarth hatte den Ruf eines exzellenten Verwaltungsjuristen. Seit dem NS-Sieg über Frankreich 1940 galt er zudem als militärisch verwegen und bekam von Adolf Hitler das Ritterkreuz verliehen. Nachdem er im sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren Deutschlands Germanisierungs- und Vernichtungspolitik durchzusetzen half, ernannte man ihn zum höheren SS- und Polizeiführer im »Wartheland«.

Während man dort Juden in Vernichtungslager karrte, glänzte der Mann in seiner schwarzen Uniform durch kultivierte Umgangsformen, und als seine ihm unterstellten SS- und Polizeiverbände im August 1944 im Warschauer Stadtteil Wola Haus um Haus räumten und deren Bewohner so unterschiedslos wie bestialisch umbrachten, war der Generalleutnant der Waffen-SS vor allem von einer Sorge geplagt, dass er nicht wusste, was er mit den Zivilisten machen solle, weil er weniger Munition als Gefangene habe. Die in der Ausstellung ausliegenden Zeugenaussagen von Überlebenden sind noch immer nicht zu begreifen.

Reinefarth bekam nach der Niederschlagung des Aufstandes das Eichenlaub zum Ritterkreuz verliehen. Als nur Monate später das Nazireich langsam aber sicher unterging, widersetzte er sich als Festungskommandant von Küstrin dem Durchhaltebefehl des Führers und türmte vor der herannahenden Roten Armee. Er suchte die Gefangenschaft im Westen und stand dort unter dem Schutz des US-Armee-Geheimdienstes CIC, weshalb die USA auch in den späteren 1940er Jahren Auslieferungsersuchen aus Polen ablehnten. So entging der Kriegsverbrecher einer zu erwartenden Todesstrafe.

Doch Antifaschisten betrieben Nachforschungen und spürten Reinefarth auf. Der vom Defa-Wochenschaustudio 1957 gedrehte Dokumentarfilm »Urlaub auf Sylt« zeigt den Bürgermeister, wie er ungeniert vor der Kamera posiert. Deckung bot ihm ein im beginnenden Kalten Krieg grassierender Antikommunismus. In Westdeutschland wurde der Film schlicht als bolschewistische Propaganda abgetan.

Bürgermeister auf Sylt zu sein, reichte dem Massenmörder aber nicht. Scheinbar mühelos machte Reinefarth Karriere, ließ sich zum Kreistagsabgeordneten wählen, war im Vorstand der Arbeitsrechtlichen Vereinigung und des Fremdenverkehrsverbandes Nordmark; er kümmerte sich um die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger und brachte es 1958 – als führendes Mitglied des »Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten« – bis zum Landtagsabgeordneten. Reinefarth war angesehen. Manche sahen ihn schon als Amtschef im Kieler Innenministerium.

Seine Fürsprecher beriefen sich darauf, dass er als »entnazifiziert« galt. Tatsächlich bescheinigte ihm eine Spruchkammer ehrenvolles Handeln und stufte ihn als »Mitläufer« ein. Rechtsanwalt Reinefarth erhob auch dagegen Einspruch – und erhielt letztlich den totalen »Persilschein«.

Vor ordentlichen Gerichten wurde der SS-Mörder nie zur Verantwortung gezogen. Obwohl, so zeigt die Ausstellung in Schleswig, die Nachforschungen der Flensburger Staatsanwaltschaft 120 Aktenbände füllten. Aber kein Ermittlungsverfahren führte je zu einer Anklage. Das verwundert auch nicht sehr, denn Zeugen, die man zu Reinefarths Treiben befragte, waren zumeist ehemalige Untergebene und beteiligt am Morden. Viele der »Ahnungslosen« waren, so vermerkt es eine Tafel in der Ausstellung, wieder »aktive Mitglieder des Militärs und Polizeibeamte der Bundesrepublik«. Sie sprachen ihre einstigen Aussagen ab und beriefen sich auf Erinnerungslücken. Vom Befehl des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, Polens Hauptstadt in Schutt und Asche zu legen und die gesamte nichtdeutsche Bevölkerung umzubringen, will niemand etwas gehört haben.

Die Wochenzeitung »Die Zeit« bezeichnete noch Mitte der 1960er Jahre das nördlichste Bundesland als »braunes Naturschutzgebiet«. Hier waren unter der laschen Aufsicht der britischen Besatzungsmacht zahlreiche Verantwortliche der Nazi-Diktatur untergekommen. Viele versuchten sich gar nicht erst zu verstecken. Aus Dokumenten jener Jahre lässt sich auch herauslesen, dass die meisten Abgeordneten des Kieler Landtages im Dritten Reich Mitglieder der NSDAP waren und dass nur ein einziger Minister des ersten Landeskabinetts keine Karriere unter Hitler gemacht hatte. Was immer auch die Medien über den 1958 in den Landtag eingerückten Reinefarth berichteten, stellte sich Ministerpräsident Kai-Uwe von Hassel (CDU) vor den Abgeordneten. Erst 1962 schied der einstige SS-General zum Ende der Legislaturperiode aus dem Landtag aus.

Jedes Jahr im August erinnert man sich in Warschau auf eine besondere Art an die 1944 im deutschen Namen begangenen Bluttaten. Auch in diesem Jahr gab es einen »Marsch des Gedenkens«. Man sprach Gebete und legte entlang der Górczewska-Straße Blumen nieder. Repräsentanten von Sylt waren aber entgegen eines Versprechens in diesem Jahr nicht dabei. »Aufgrund der derzeitigen Situation ist bedauerlicherweise keine persönliche Teilnahme von Repräsentanten der Gemeinde Sylt an der heutigen Gedenkveranstaltung in Wola möglich«, hieß es aus dem Rathaus in Westerland. Die Gründe dafür können nur Verwaltungsfachleute begreifen. Ein solcher Experte ist der aktuelle Bürgermeister Nikolas Häckel: »Der Gemeinde Sylt wurde ein Interimshaushalt verordnet, da die Dokumentation unserer Inventur noch nicht vollständig ist«, erklärte der parteilose Verwaltungschef. »Es ist uns daher derzeit untersagt, freiwillige Leistungen zu tätigen.« Und dann fügt er an: »Wir arbeiten aber daran, im Oktober nach Warschau zu kommen.«

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