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Traurige Bedingtheiten
Der Schriftsteller Christian Baron liest aus seinem neuen Roman in Kaiserslautern, wo er aufgewachsen ist und sich zu Hause fühlt. Trotz allem
Wer in Mannheim dem ICE entsteigt und weiter nach Kaiserslautern will, lernt die Bahn einmal als einfühlsamen Dienstleister kennen. Denn die S-Bahn-Linie 2 sorgt für einen allmählichen, schonenden Transit von den Hauptverkehrsadern des Schienennetzes in den äußersten Südwesten, der ebenso gerne wie zu Unrecht als Inbegriff der Provinz geschmäht wird. Zunächst geht es am, nun ja, urbanen Ludwigshafen vorbei, an Schifferstadt und Hassloch, ehe in Neustadt an der Weinstraße die Rebhänge grüßen. Kurz darauf versinkt die rote Bahn im Pfälzer Wald. Und kommt nach einem Vollbad im Grünen in der Heimatstadt von Christian Baron wieder heraus.
In Kaiserslautern, im oberen Stockwerk einer Buchladen-Kette, schildert der Wahl-Berliner erst mal genau diese Zugfahrt und erzählt, dass er genau in dem Moment, in dem ihn in der Bummelbahn der Dialekt umwogt, merkt, dass er bald zu Hause ist. Spätestens wenn sein Blick beim Aussteigen auf das gigantische Fußballstadion hoch oben auf dem Betzenberg fällt, ist es dann da. Das Gefühl, »dahem zu sinn – es ist nichts anderes als das«. Er habe dann »ausschließlich positive Gefühle«, berichtet er. Und das, obwohl er ja bekanntlich »keine wahnsinnig glückliche Kindheit« dort verbracht hat.
Genau diese Kindheit hat Baron in seinem Erstling beschrieben: »Ein Mann seiner Klasse«, Anfang 2020 erschienen, hat manch einer zwischendurch beiseite gelegt, weil die Schilderungen, wie der mal wieder betrunkene Vater zu Hause wütet, nur schwer zu ertragen sind. Umso mehr, als man wusste, dass die krebskranke Frau, die der Mann auch in ihrer Todesstunde versetzt, Christian Barons Mutter war. In seinem neuen Buch »Schön ist die Nacht« verarbeitet Baron nun die Lebensgeschichte seiner Großväter. Das geschieht notwendigerweise nicht ohne fiktionale Elemente, denn in den vier Zeitepochen (1944, 1973, 1976, 1979), in denen Horst Baron und Willy Wagner agieren, war Christian noch nicht geboren. Die bislang fast ausschließlich positiven bis euphorischen Rezensionen erwähnt Baron hier bei der Lesung nicht. Aus Bescheidenheit, oder weil ihn etwas anderes weit mehr zu überraschen scheint: »Ich war bisher selten mit einem von mir geschriebenen Text so zufrieden wie mit diesem«, sagt er. »Das sage ich gar nicht so oft, weil ich eher zu größtmöglicher Selbstkritik neige.«
Horst und Willy sind Kriegskinder, sie begegnen sich erstmals in den Trümmern der nach einem Fliegerangriff völlig zerstörten Industriestadt, der heute längst die Industrie abhandengekommen ist. Die Ruinen des einstigen Pfaff-Nähmaschinenwerks nehmen noch 2022 mitten in der Stadt die Fläche eines mittleren Dorfes ein. Gearbeitet und Geld verdient wird hier seit 15 Jahren nicht mehr. Für Willy und Horst sind die gut bezahlten Jobs bei Pfaff schon nach dem Krieg unerreichbar. Horst ist Möbelpacker und muss sich von Job zu Job hangeln. Willy arbeitet auf dem Bau, zwischenzeitlich zieht es ihn zur Fremdenlegion. Willy ist der Sensiblere von beiden, ein Mensch, dessen oberster Anspruch an sich selbst es ist, »anständig zu bleiben«.
Horst (»Depressionen sind was für die Reichen. Wir anderen müssen morgens arbeiten«) ist ein Mann, der Aphorismen prägt und in seiner Stammkneipe jedem aufs Maul hauen würde, der ein Schnösel-Wort wie »Aphorismus« sagt. Überhaupt fällt es schwer, Horst, der sich an einer Prostituierten, die ihn um ein paar Mark betrogen hat, wie ein Pitbull im Blutrausch rächt, auch sympathische Seiten abzugewinnen. Was man aber kann – und dass man das tut, hält Baron für geboten –, ist den Mann in seiner Bedingtheit zu sehen. Und damit auch als Resultat der Lebensverhältnisse, in denen er aufwuchs. Horst ist der Sohn einer Prostituierten, die er 1944 als verkohlte Leiche identifizieren muss, und eines Mannes, den die Nazis als »Asozialen« nach Dachau gebracht haben. Von oben kam für Horst nie etwas. Vor allem nichts Gutes.
Vielleicht wirkt er deshalb bei aller Skrupellosigkeit oft auch lebensschlauer als Willy. »Dass man mit ehrlicher Arbeit was erreichen kann, hat noch nie gestimmt«, sagt er ihm. »Du musst die Ellbogen ausfahren, sonst bleibste ewig der kleine Mann. Hab ich mir nicht ausgesucht, ich bin da nicht für, aber mit den Menschen ist kein Frieden zu machen.« Nein, Horst macht sich keine Illusionen über die Heilsversprechen des Kapitalismus. Aber er hat die Regeln des Spiels so gut begriffen, dass er in den gemieteten vier Wänden wie im Job passioniert nach unten tritt.
Ganz anders Willy, der nicht nur in seiner Liebe zu Gattin Rosi zuweilen an Willy Loman aus Millers »Tod eines Handlungsreisenden« erinnert. Sieben Töchter haben Willy und Rosi Wagner, trotz aller Überstunden ist das Geld immer lange vorm Monatsende weg. Dennoch glaubt Willy an das Mantra des Handlungsreisenden, an das Grundversprechen der Marktwirtschaft, wonach es irgendwann nach oben geht, wenn man sich nach Kräften müht und für den Chef mitdenkt. Willy ist dabei keine reine Leidensfigur aus einem Charles-Dickens-Roman.
Wie in »Mann seiner Klasse« sind Bier, Wein und Schnaps in »Schön ist die Nacht« eines der beherrschenden Themen. Bei der Lesung merkt man, dass das Publikum wissen will, an welchem realen Orten die Handlung spielt. Aber Baron verweigert Antworten darauf, hilft auch nicht mit bei der Suche nach der Kneipe, in der Willy immer versumpft. Das halte er wie Joachim Meyerhoff und berufe sich aufs »Berufsgeheimnis«. Ohnehin findet er, dass das »literarisch die uninteressanteste Frage« sei.
Eine der rührendsten Szenen im Buch ist die vom Familienoberhaupt aufgestellte Liste mit dem »Etat der Familie Wagner«, die helfen soll, mit strikter Budgetkontrolle die neun Köpfe der Familie über Wasser zu halten. Aufs absolute Minimum ist alles zusammengestrichen. Das Finde-den-Fehler-Spiel fällt bei »856 Mark Einnahmen« aus zwei Jobs dennoch leicht: »Wurst-Käse: 17 DM«, »Schulsachen Kinder: 8 DM, Fahrgeld Kinder: 40 DM, Bier: 200 DM.« Auch hier sind sie also wieder, die Ambivalenzen der Figuren. Ist Willy, dem zu Hause schon mal ein Topf um die Ohren fliegt, wenn das Geld wieder in der Kneipe geblieben ist, ein verantwortungsloser Säufer? Er selbst sagt immer wieder, dass er den Alltag nicht schaffen würde, wenn er von morgens bis abends auf dem Bau arbeite und dann sofort heimgehe zu den schreienden Kindern in die enge, schäbige Wohnung. Eine billige Ausrede? Wer ohne Schuld ist, schmeiße die erste Lokalrunde.
Auch Willy fragt sich schließlich, ob man anständig bleiben kann, wenn es auch zum Anstand gehört, seinen Kindern etwas zu essen kaufen zu können. Und Horst bringt plötzlich dem schwer behinderten Sohn seiner Lebensgefährtin die Zuneigung entgegen, die er seinen eigenen Kindern komplett versagt. Und ja, auch wenn mancher Rezensent sich ein prekäres Leben mangels eigener Anschauung nur als 24/7-Jammertal vorstellen kann – die Nächte sind auch rund um die Lautrer Talstraße manchmal »schön«. Zum Lied »Schön ist die Nacht« haben Willy und Rosie erstmals einen Tango getanzt, ihre Liebe ist ihnen nie völlig abhandengekommen. Und die Frage, was aus den beiden hätte werden können, wenn fleißige Poliere in den Siebzigerjahren, den vermeintlichen Hochzeiten der sozialen Marktwirtschaft, ein auskömmliches Einkommen verdient hätten, rührt am Kern dessen, worum es Baron dann doch auch geht.
»Manche Leben bleiben beschissen, egal, wie man sich anstrengt«, ist für die Rezensentin Elke Heidenreich eine Quintessenz des Buches. Auch ihr, die wie Baron aus einfachsten Verhältnissen stammt, ist der Aufstieg durch Bildung gelungen, der heute den meisten Menschen versagt bleibt. Diskussion über Gender und Migration seien wichtig, hat Heidenreich im WDR gesagt. Aber die Diskussion über Klasse, die hätten die Akademiker offenbar vergessen. Auch Christian Baron fällt auf, dass viele sprachsensible Menschen bei sozialen Themen recht unsensibel vor sich hinreden. Und tatsächlich geht das Wort »asozial« ja erstaunlich vielen Menschen trotz der ziemlich offensichtlichen Kontinuitätslinie zur NS-Zeit recht leicht über die Lippen.
Dabei ist Baron, der im vergangenen Jahrzehnt als Zeitungsredakteur unter anderem fürs »Neue Deutschland« arbeitete, glücklicherweise kein politischer Journalist, der meint, er müsse mal das Genre wechseln, um seine Thesen zu verkünden. Baron beobachtet seine Figuren aus der Nahdistanz, aber eben aus der Distanz. Das mag von einer im besten (und einem derzeit nicht sonderlich modischen) Sinne journalistischen Grundhaltung geprägt sein. Vielleicht aber auch vom Wissen, dass nur formale Distanz einen retten kann, wenn die inhaltliche fehlen muss. Auch deshalb ist »Schön ist die Nacht« ein großartiger Roman mit der richtigen Genrebezeichnung geworden. Mit sorgsam gezeichneten Charakteren, mit Situationen, die voller Zärtlichkeit beschrieben sind. Und mit einem filigranen Humor, der auch während der Lesung in Kaiserslautern immer wieder aufblitzt. Wenn Baron lacht, auch wenn er über sich selbst lacht, ist das ansteckend. Bei der Lesung wird dann auch häufig gelacht. Vor allem ältere Damen schauen »den Christian« zuweilen verzückt an, das anschließende Signieren dauert lange. Man hat nicht den Eindruck, dass Baron zweimal den gleichen Widmungstext verwendet.
Aber ein durch und durch politischer Mensch, das ist dieser Baron natürlich schon. Und das lässt er in »Lautre« auch immer wieder durchblicken. Zum Beispiel, wenn er angesichts des Renovierungsbedarfs in der City betont, dass man dazu »Geld haben müsste, das man sich von den richtigen Leuten holen müsste«. Oder wenn er bei allem Lob für die Sozialpolitik der SPD-FDP-Koalition unter Willy Brandt ergänzt, dass die auch aus Eigennutz erfolgt sei. Wenn die soziale Schere zu weit auseinandergehe – da argumentiert er ganz ähnlich wie Willys Mutter Hulda, die in der DKP war –, würden zu viele Menschen den Kapitalismus infrage stellen. »Und das muss ja nun wirklich verhindert werden.«
Jeder ist seines Glückes Schmied? Für Baron ist das die gleichzeitig größte und geschickteste Lüge des Neoliberalismus, der sich zunehmend nur noch aus Gründen der Mimikry »soziale Marktwirtschaft« nennt. Und der nichts dagegen tut, dass jeden Tag Kinder geboren werden, deren Lebensumstände ihr gesamtes Leben bestimmen werden. Dass die sich fortschreiben, ist dann vielleicht auch die traurigste Erkenntnis, die »Schön ist die Nacht« in Erinnerung ruft. Denn Horsts Sohn Ottes, der spätere prügelnde Vater aus dem »Mann seiner Klasse«, ist hier zwar nur eine Randfigur. Doch er wird als durchaus verletzlicher, zu Empathie fähiger junger Mann beschrieben. Doch außer exzessiver Gewalt, Verachtung und der völligen Unfähigkeit, ihn als eigenständigen Menschen wahrzunehmen, hat ihm Vater Horst nichts zu bieten.
»Schön ist die Nacht« endet 1979. Sechs Jahre später kommt Christian Baron zur Welt – als Sohn von Willys Tochter Mira und Horsts Sohn Ottes, der in der Anfangsszene den Kopf des kleinen Christian gegen die Wand schlägt. Besser wird es danach nicht. Es ist ziemlich unmöglich für diesen Menschen, der später seine Frau elendig alleine sterben lassen wird, etwas anderes als Verachtung zu empfinden. Das gelingt erst nach der Lektüre von »Schön ist die Nacht.« Denn letztlich hatte auch Ottes keine Chance. Nicht bei diesem Vater. Und nicht als Mann seiner Klasse.
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