Konservierte Erinnerungen

Das August Bebel Institut in Berlin zeigt in einer Ausstellung »Afghanistan Memory Boxes« gegen das Vergessen

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.
Erinnerungen aus einer langen Zeit des andauernden Kriegszustandes.
Erinnerungen aus einer langen Zeit des andauernden Kriegszustandes.

Wenn Menschen im Krieg sterben, bleiben von ihnen oft nur wenige Zeugnisse ihrer einstigen Existenz. Ein Pullover etwa, den sie nicht mehr getragen haben, ein Foto aus glücklicheren Zeiten, das sie lachend zeigt, eine Armbanduhr, die stehen blieb, als die Granate explodierte … Erinnerungsstücke wie diese sammelt die Künstler- und Menschenrechtsgruppe Afghanistan Human Rights and Democracy Organization (AHRDO) seit mehr als zehn Jahren. Sie organisierte Workshops mit Familienangehörigen der Opfer, sammelte nach eigenen Angaben mehr als 15 000 Berichte über Kriegsopfer und schuf sogenannte Memory Boxes, Erinnerungskästen.

Etwa drei Dutzend dieser Kästen wider das Vergessen hatte die Gruppe in ihrem eigens geschaffenen Kriegsopfermuseum in Kabul ausgestellt – bis sie in der Nacht zum 15. August 2021 angesichts des Vormarsches der Taliban den Ausstellungsort Museum aufgeben musste. Zuvor hatten die Mitarbeiter alle Objekte und Dokumente sichergestellt und versteckt. Zehn Memory Boxes haben es auf verschlungenen Wegen nach Europa geschafft. Sie werden derzeit in der Galerie des August Bebel Instituts in der Müllerstraße in Berlin-Wedding ausgestellt.

Der Raum ist karg, die Wände sind strahlend weiß, in der Mitte stehen Stühle, bereit für Workshops und andere Veranstaltungen. Das Ambiente erinnert an die Räumlichkeiten, in denen die Gruppe ihre Workshops in Afghanistan veranstaltet hatte. Verschiedene Opfergruppen waren dort damals zusammengekommen: Menschen, die Angehörige während der kommunistischen Ära verloren hatten, andere, die im ersten Krieg gegen die Taliban Opfer zu beklagen hatten und wiederum andere, deren Kinder, Eltern, Geschwister bei Bombenattentaten nach 2010 starben. Es waren Paschtunen, Hazara, Usbeken und Tadschiken – jede Volksgruppe hatte Verluste zu beklagen. Die Workshops waren auch eine Gelegenheit, Ressentiments zwischen den Ethnien zu überwinden, sagt Hadi Marifat, ein Mitgründer von AHRDO, gegenüber »nd«. Leid und Schmerz kennen keine nationalen oder ethnischen Grenzen.

Die Memory Boxes zeichnen die lange Kriegsgeschichte Afghanistans nach. 1978 verschwand nach dem Staatsstreich der damaligen Kommunistischen Volkspartei DVPA nebst vielen anderen Allah Mohammad in einem Gefängnis der neuen Machthaber und kehrte niemals zurück. Seine Witwe Afghani berichtet darüber. Sie legte unter anderem die alte Fotokamera ihres Mannes und das einzige Buch, das er besessen hatte, in die Erinnerungsbox. Ihr Leben nach dem Tod des Partners spiegelt die Lenesgeschichte vieler ihrer Landsleute wider. Sie floh nach Pakistan, kehrte Jahre später zurück – und wurde von einem Militärkommandanten der Gegend gezwungen, dessen Ehefrau zu werden. Inzwischen ist sie zum zweiten Mal verwitwet.

In einem Gefängnis der Taliban kam Sakhidad Hedayat im November 2001 ums Leben. Seine Ehefrau Nargis hatte zuvor das Haus, das sie besaßen, verkauft, um ihn, wie die Taliban ihr versprachen, freikaufen zu können. Vor dem Gefängnistor wartend, bekam sie schließlich aber nur seinen Leichnam ausgehändigt, gezeichnet von Folterspuren. Ihre Erinnerungsbox enthält das Tuch, in das der Tote gewickelt war, einen Löffel, den er benutzt hatte, und eine silberfarbene Brosche, deren Draht zum Schriftzug Peace (Frieden) gebogen war.

Nargis’ Bericht ist auch eine Erzählung über das Scheitern der vom Westen unterstützten vormaligen Regierungen in Kabul. »Ich habe für Karzai gestimmt, weil ich hoffte, dass er den Familien der Opfer helfen würde. Aber er hat nichts für die Millionen Opfer im Land getan. Ich habe auch für die Parlamentswahlen gestimmt, in der Hoffnung, dass die Mitglieder des Parlaments etwas für uns tun würden. Aber sie haben nichts getan, außer ein allgemeines Amnestiegesetz zu verabschieden, das allen Kriegsverbrechern Amnestie gewährt. Kein Beamter hat uns jemals nach unseren Problemen gefragt oder uns zugehört«, schreibt Nargis. Ähnliche Erfahrungen machten viele Opferfamilien. In den Workshops und Veranstaltungen von AHRDO konnten sie sich zumindest darüber austauschen. Jetzt sind ihre Berichte als eine Art Flaschenpost in Berlin zu lesen.

Besonders ins Auge stechen zwei große Puppen, die Habib Wali in die Box gelegt hat. Sie erinnern ihn an seine zwei jüngeren Schwestern und seine Mutter. Alle drei kamen bei einem Sprengstoffattentat im August 2015 in ihrem Kabuler Haus ums Leben. Habib Wali befand sich ebenfalls im Haus, aber in einem anderen Zimmer. Insgesamt 15 Menschen wurden bei dem Anschlag getötet, 283 verletzt. »Es gab keine nicht-zivilen Opfer«, schreibt Wali. Er berichtet zudem, dass während der Trauerfeier, als Familie und Nachbarn auf dem Friedhof waren, Diebe ins Haus eingedrungen und alles gestohlen haben, was die Detonation nicht zerstört hatte. Die Verantwortlichen wurden niemals gefasst, weder jene, die den Anschlag verübt hatten, noch die Räuber. Die Polizei habe sich nicht einmal bemüht, Ermittlungen einzuleiten, notiert Wali im Begleittext.

Die Erzählungen der Angehörigen der Opfer erschüttern. Zum einen wegen des Verlustes, den sie erlitten haben. Erschütternd ist aber auch die Gleichgültigkeit, mit der Regierung, Politik und Administration auf Bitten oder Anfragen reagierten. »Ich halte Kontakt mit ihnen. Viele schicken mir Nachrichten und erinnern sich an die Zeiten, die wir miteinander verbracht haben. Aber es ist schwer«, erzählt Salim, ein weiteres Gründungsmitglied von AHRDO, dem »nd«. Salim und einem Großteil der Gruppe ist die Flucht nach Kanada geglückt. Von dort aus versucht die Organisation, weiter zu arbeiten – mit afghanischen Geflüchteten vor Ort, aber auch aus der Distanz mit Menschen in Afghanistan. Dort gibt es jetzt viele neue Opfer. Auch dies wird beim Betrachten der Erinnerungsboxen deutlich.

Ausstellung »Afghanistan Memory Boxes – Gegen das Vergessen«, bis 21. September 2022, August Bebel Institut, Müllerstraße 163, Berlin, Di. bis Fr. 14–18 Uhr

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