Genug für alle

Kieler Bündnis streitet für mehr soziale Gerechtigkeit und Investitionen in Klimaschutz

  • Robert D. Meyer, Kiel
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Proteste am Samstag in Kiel waren nur ein Anfang.
Die Proteste am Samstag in Kiel waren nur ein Anfang.

Olaf Basilion ist anzusehen, wie die Anspannung von ihm abfällt. »Gut gemacht«, spricht ihn jemand von der Seite an. Der 52-Jährige nickt und strahlt über das ganze Gesicht. Im Hintergrund läuft »Pay me my money down«, ein Lied über Hafenarbeiter, die um ihren Lohn betrogen werden. Der Titel ist mehr als 140 Jahre alt, einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde er aber erst 2006 durch die Interpretation des US-Musikers Bruce Springsteen. Das Lied passt zu Kiel, der Hafenstadt an der Förde. Wer über den Hauptbahnhof mit dem Zug in die Innenstadt anreist, der kann die Kaimauern, an denen Kreuzfahrtschiffe und Fähren nach Skandinavien an- und ablegen ebenso wenig übersehen wie das Werftgelände von Thyssenkrupp.

Das alte Arbeiterlied passt aber auch zu einem wie Olaf Basilion. Er ist Mitorganisator des Bündnisses »Genug ist genug«, einem Zusammenschluss verschiedener Initiativen, die am Samstag in der Kieler Innenstadt eine Kundgebung abhielten. Etwa 150 Menschen nehmen teil, darunter Aktivist*innen der Seebrücke Kiel, von Fridays For Future, dem antikapitalistischen Bündnis »Wer hat, der gibt«, der Linkspartei und der Initiative #IchBinArmutsbetroffen, zu der auch Basilion gehört. Was vor einigen Monaten als Hashtag auf Twitter begann, unter dem Menschen aus ganz Deutschland von ihrem Alltag mit niedrigen Einkommen und Existenzängsten berichten, findet inzwischen auch Widerhall in der analogen Welt. Basilion twittert ebenfalls über seine Erfahrungen mit Armut, er weiß, wie tief ein Mensch fallen kann. Aus seinen Erlebnissen macht der 52-Jährige kein Geheimnis, spricht offen darüber. Obdachlosigkeit, Drogen, posttraumatische Belastungsstörung – all dies kennt er. Aktuell lebt er in einer teilstationären Wohngemeinschaft. Seit drei Monaten engagiert er sich politisch.

Am Samstag in der Kieler Innenstadt geht Basilion nun den nächsten Schritt und hält seine erste politische Rede vor Publikum. Ihr Inhalt: »Die Summe meiner eigenen Erfahrungen«, wie er sagt. Basilion hatte eigentlich ein Manuskript vorbereitet, doch schon nach wenigen Sätzen merkt er, dass ihm freies Reden leichter fällt, er authentischer spricht, als würde er vom Blatt ablesen. »Wir wollen keine Almosen, wir wollen einfach genug zum Leben haben«, ruft er ins Mikrophon. Die Kundgebung applaudiert, immer wieder gibt es zustimmende Zwischenrufe, etwa wenn Basilion von seinen positiven Erfahrungen mit dem 9-Euro-Ticket erzählt. »Meine Mutter lebt in Hamburg, ich konnte ohne groß darüber nachzudenken mit dem Zug zu ihr hinfahren, auch wenn sie Hilfe gebraucht hat. Das ist jetzt leider alles nicht mehr möglich.« Rund 50 Euro kostet eine Hin- und Rückfahrt zwischen Kiel und Hamburg. Geld, das Olaf Basilion oft nicht hat. Er erzählt dies keinesfalls mit Verbitterung, sondern erfasst alles in einem größeren Kontext und erklärt, wie Themen zusammenhängen. Ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr würde Menschen wie ihm nicht nur soziale Teilhabe ermöglichen, sondern auch noch einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Basilion ist wichtig zu betonen, dass es jetzt breite gesellschaftliche Bündnisse braucht, wobei Nazis und Menschen, die Verschwörungserzählungen verbreiten, definitiv nicht dazugehören. Zum Konsens in Kiel gehört deshalb auch, solchen Personen keine Plattform zu bieten. Als ein paar Mitglieder von »Die Basis« auf den Europaplatz drängen, wird ihnen mit deutlichen Worten von Ordner*innen die Teilnahme verwehrt. Auch Basilion nimmt in seiner Rede auf den kleinen Vorfall unmittelbar Bezug und erklärt, dass »Genug ist genug« sich von solchen Personen nicht auseinanderdividieren lassen dürfe.

Renate Antonie Krause gehört zu den Ersten, die Basilion nach seiner ersten Rede gratulieren. Auch die 69-Jährige spricht später auf der Kundgebung, erzählt davon, wie Menschen mit wenig Geld stigmatisiert werden. Sie selbst ist von Altersarmut betroffen. »Ich bin seit sieben Jahren in dieser Situation gefangen, ohne eine Aussicht auf Änderung«, erzählt sie. Antonie Krause hat ein bewegtes Arbeitsleben hinter sich, war Buchhändlerin, besaß ein Naturwarengeschäft, verkaufte historische Kleider auf Märkten. Das Einkommen reichte für sie und ihre drei Kinder, doch Geld für den Ruhestand zurückzulegen, war nicht drin. Ähnlich wie Basilion hadert die Rentnerin damit aber nicht, sondern engagiert sich, in ihrem Fall bei den Groschendrehern, einem Kieler Verein gegen Altersarmut. »Ich möchte nicht, dass meine Kinder nach einem arbeitsreichen Leben in eine ähnliche Situation kommen.«

Antonie Krause und Basilion sind sich einig, dass die Kundgebung nur ein Anfang gewesen sein kann. Der Protest müsse wachsen und noch mehr Menschen mobilisieren. Im Hintergrund damit bereits beschäftigt ist Lorenz Gösta Beutin, stellvertretender Vorsitzender der Linkspartei, frührer Bundestagsabgeordneter und daher bestens vernetzt. Er verspricht: »Wir werden in Kiel die Proteste fortsetzen und uns um weitere Bündnispartner etwa in Sozialverbänden und Gewerkschaften bemühen

150 Teilnehmer*innen am Samstag waren nicht viel, aber für Kieler Verhältnisse ein guter Anfang. Zumal größere Parteien die Proteste bislang nicht unterstützen: Die in Schleswig-Holstein oppositionelle SPD wird kaum gegen die im Bund reagierende Sozialdemokratie protestieren und auch die Grünen sind zurückhaltend, sitzen sie doch sowohl in Kiel als auch in Berlin auf der Regierungsbank.

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