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Chile steckt in der neoliberalen Falle
Linke Regierung stellt neue Verhandlungen über Freihandelsabkommen in Aussicht
Linke Parlamentsangehörige sind baff erstaunt. Die soeben neu ernannte chilenische Innenministerin, Carolina Tohá, kündigte an, das umstrittene Freihandelsabkommen Trans-Pacific-Partnership (TPP-11) möglichst bald unterzeichnen zu wollen. Schon die Kabinettsumbildung durch den Präsidenten Gabriel Boric war eine eindeutige Verschiebung des Kurses Richtung Mitte, nachdem der progressive Verfassungsentwurf beim Plebiszit am 4. September klar durchfiel. Nun legte Tohá am 12. September nach.
»Das Abkommen ist ein trojanisches Pferd.« So reagierte der linksliberale Parlamentarier Tomás Lagomarsino gegenüber der lokalen Presse auf Tohás Vorstoß. Das TPP-11 würde zwar weitere Zollschranken entfernen, allerdings müsste Chile verschiedene Patente in Bezug auf Samen und Medikamente übernehmen und akzeptieren. »Das könnte die Lebensqualität vieler Chilenen beeinträchtigen«, so Lagomarsino.
Doch nicht nur das umstrittene TPP-11 – mit zehn weiteren Staaten des Pazifikraums –, auch die Modernisierung des Freihandelsabkommens mit der Europäischen Union, das seit 2003 in Kraft ist, steht nach der Ablehnung der neuen Verfassung erneut zur Debatte. Einen Tag nach dem Plebiszit veröffentlichte der Sprecher der EU, Peter Stano, eine Pressemitteilung, in der er das Abstimmungsresultat zur Kenntnis nahm und die chilenische Regierung dazu einlud, die Verhandlungen über das Abkommen erfolgreich zu beenden.
Die Regierung Boric legte zu Beginn ihrer Amtszeit im März und auf Druck des damals tagenden Verfassungskonvents alle Verhandlungen zu Freihandelsabkommen auf Eis. Zuerst solle das chilenische Volk entscheiden, welche Grundsätze das Land haben soll.
Die neue Zustimmung der linksreformistischen Regierung unter Gabriel Boric widerspreche dem eigenen Regierungsprogramm, so die Wirtschaftswissenschaftlerin Andrea Soto von der gewerkschaftsnahen Denkfabrik Fundación Sol. »Ziel der Regierung war es mehr wirtschaftliche Autonomie, ökologische Entwicklung und Zusammenarbeit mit den lateinamerikanischen Staaten zu haben«, so Soto gegenüber »nd«. Die Regierung habe ihren eigenen progressiven Diskurs verlassen. Ziel sei es in einem wirtschaftlich schwierigen Moment, in dem für das Jahr 2023 teilweise eine Rezession vorhergesagt wird, ausländische Investor*innen anzulocken. »Aber die Frage ist, zu welchem Preis?«, so Soto.
Chile ist bereits heute eines der Länder mit den meisten Freihandelsabkommen in der Welt. Mit über 26 Verträgen wurden seit 1990 die Zollschranken gegenüber 50 Ländern abgebaut. Dazu gehören die wichtigsten Volkswirtschaften der Welt wie China, die EU und die USA.
Die beiden aktuellen Freihandelsabkommen sehen sogenannte Investitionsgerichtshöfe vor. Dort könnten Unternehmen gegenüber einem Staat Schadensersatzforderungen geltend machen, wenn neue Gesetze, zum Beispiel im Bereich des Gewerkschafts- oder Umweltrechts, die Investitionsbedingungen verschlechtert hätten – im Klartext: wenn die Erhöhung von Umwelt- und Sozialstandards auf die Profitmargen drücken sollte.
Die Europäische Union unterstreicht, dass ihre Freihandelsabkommen im Gegensatz zu anderen bestimmte Standards im Bereich der Demokratie, Umweltschutz und Menschenrechte setzen. Gleichzeitig kritisieren soziale Organisationen in Chile, dass sie zu den bisherigen Verhandlungen nicht eingeladen wurden. Helmut Scholz, EU-Abgeordneter der Linkspartei, bezeichnete derweil die Umweltbestimmungen jedoch als »zahnlosen Tiger«, da bei Verstößen keine Sanktionen vorgesehen sind.
Die wirtschaftlichen Interessen der EU beziehen sich insbesondere auf die riesigen Lithiumstätten im Norden Chiles. Zusätzlich investieren deutsche Firmen in den Bau von Produktionsstätten für sogenannten grünen Wasserstoff, der ganz im Süden des Landes erzeugt werden soll. Erst im August unterzeichneten die Energieminister beider Länder einen Vertrag zum Ausbau der Energieerzeugung und -lagerung. Im gleichen Zug wurde ein Vertrag mit dem Hamburger Hafen abgeschlossen, der die Lieferung von Wasserstoff nach Deutschland regeln soll.
Die Freihandelspolitik hat Chile auf seiner Rolle als Exporteur von Rohstoffen festgelegt. »Heute exportieren wir Kupfer oder Zellulose in seiner Grundform. Die Rohstoffe werden kaum weiterverarbeitet«, kritisiert Soto. Dies führe zu einem Wirtschaftswachstum, das von der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und dem Weltmarktpreis der Produkte abhängt. Die chilenische Politik sollte weniger auf den Export von Rohstoffen setzen, sondern auf eine langfristige wirtschaftliche Entwicklung, die eine nachhaltige Entwicklung zulasse, schließt Soto ab.
Die Regierung kündigte ihrerseits an, in den kommenden Wochen über die Abkommen zu sprechen und gewisse Punkte zu identifizieren, die mit dem Regierungsprogramm nicht vereinbar wären, so die Innenministerin Tohá. Dort würde man versuchen, Sonderregelungen zu bekommen. Für Kritiker*innen ist die Debatte ein weiterer Schritt der linksreformistischen Regierung in Richtung politischer Mitte.
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