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Die Ehefrau spritzte ihrem Mann eine tödliche Überdosis Insulin
Ein Fall vor dem Bundesgerichtshof zur aktiven Sterbehilfe
Eine Frau hilft ihrem bettlägerigen Ehemann beim Suizid, indem sie ihm selbst eine tödliche Überdosis Insulin spritzt. Laut Bundesgerichtshof (Az. 6 StR 68/21) hat sie sich nicht strafbar gemacht. Der BGH hob die vorinstanzliche Verurteilung wegen Tötung auf Verlangen auf und sprach die Ehefrau frei. Das Verhalten der Krankenschwester im Ruhestand stelle sich als straflose Beihilfe zum Suizid dar, so im Beschluss des 6. Strafsenats vom 28. Juni 2022.
In Deutschland ist die Selbsttötung nicht strafbar und die Beihilfe dazu laut Grundsatz ebenfalls nicht. Anders ist es mit der aktiven Sterbehilfe: »Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen«, lautet Paragraf 216 des Strafgesetzbuchs. Das war bisher so verstanden worden, dass ein Angehöriger dem Sterbewilligen ein tödliches Medikament ans Bett stellen darf, doch einnehmen muss der Sterbewillige es selbst.
Bei dem verheirateten Ehepaar aus der Nähe von Magdeburg war der Sterbewunsch des Mannes ein Dauerthema. Er litt seit Jahren an chronischen Schmerzen, Diabetes, Depressionen und etlichen anderen Krankheiten und war zuletzt ein Pflegefall. An einem Tag im August 2019 geht es ihm so schlecht, dass er zu seiner Frau sagt: »Heute machen wir‹s.« Er bittet sie, ihm sämtliche Tabletten im Haushalt zusammenzutragen, und schluckt sie, nachdem die Frau sie für ihn aus den Verpackungen gedrückt hat, wozu er selbst wegen seiner Arthrose an den Händen nicht mehr in der Lage war. Dann fordert er sie auf, noch alle vorrätigen Insulin-Spritzen zu holen. Die Frau gibt ihm sechs Spritzen, an denen er in der Nacht stirbt. Wie besprochen holt sie keinen Arzt.
Das Landgericht Stendal hatte die Frau im November 2020 zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Sie habe aktiv handelnd die Spritzen gesetzt. Ihr Mann habe sein Leben in ihre Hand gelegt. Doch nach Auffassung des BGH wird das »den Besonderheiten des Falles nicht gerecht«. Der BGH sieht die Einnahme der Tabletten und die Insulin-Spritzen als »einheitlichen lebensbeendenden Akt«. Über die Ausführung habe allein der Mann bestimmt, der auch an den Tabletten gestorben wäre. Er habe auch nicht darum gebeten, den Rettungsdienst zu rufen.
Der Senat äußert grundsätzliche Zweifel an der Strafvorschrift des Paragrafen 216. Der BGH verweist auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe vom Februar 2020. Darin wurde damals das Verbot der sogenannten geschäftsmäßigen Sterbehilfe (Paragraf 217 StGB) für nichtig erklärt. Es sollte vor allem den Sterbehilfevereinen das Handwerk gelegt werden. Jeder Mensch habe ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Das schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und dabei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen, so das Bundesverfassungsgericht damals.
Die BGH-Richter deuteten an, dass diese Grundsätze aus ihrer Sicht auf Paragraf 216 übertragbar sein müssten: Eine Ausnahme solle zumindest in den Fällen gemacht werden, »in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung selbst umzusetzen, aus dem Leben zu scheiden, sie vielmehr darauf angewiesen ist, dass eine andere Person die unmittelbar zum Tod führende Handlung ausführt«.
Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, sieht mit dem Urteil die Grenze zwischen Suizidbeihilfe und aktiver Sterbehilfe verschwimmen. »Der Bundesgerichtshof hat mit seiner Entscheidung das strafrechtliche Verbot der Tötung auf Verlangen de facto aufgehoben.« Er forderte den Bundestag zur Klarstellung auf. »Das Töten durch andere muss weiterhin verboten bleiben, sonst nimmt der gesellschaftliche Druck auf alte, pflegebedürftige, schwerstkranke und behinderte Menschen zu.« Seit Juni ringt der Bundestag um eine einvernehmliche Regelung in dem vom Bundesverfassungsgericht gekippten Paragrafen 217. Dazu liegen drei fraktionsübergreifende Entwürfe vor, über die noch in diesem Jahr abgestimmt werden soll. dpa/nd
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