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Vorbilder: Nomaden und Piraten
Emanzipation ist keine Idee aus Europa: Ein Gespräch mit Thomas Wagner über sein neues Buch »Fahnenflucht in die Freiheit«
Herr Wagner, laut herrschender Meinung hat die Demokratie ihre Wurzeln in der griechischen Antike gehabt. Sie bestreiten das in Ihrem neuen Buch.
Ja, ganz entschieden. Richtig ist vielmehr: Wo immer der repressive Staat entstand, sei es in Mesopotamien, an den Ufern des Nils, den Flusstälern Südostasiens oder in Zentralamerika – viele Menschen sind vor ihm geflüchtet und haben in abgelegenen Gebieten, in Sümpfen, Steppen, Gebirgen, in den Wäldern oder auf Inseln neue Gemeinwesen gegründet, in denen es keine Obrigkeit gab. Die bloße Existenz dieser Gesellschaften ohne Staat hat der politischen Ideengeschichte demokratische Impulse gegeben, die als solche bislang kaum registriert, geschweige denn in globalgeschichtlicher Perspektive erforscht worden sind.
Thomas Wagner, 1967 Rheinberg (NRW) geboren, ist Soziologe und Publizist. 2021 erschien bei Klett-Cotta von ihm: »Der Dichter und der Neonazi. Erich Fried und Michael Kühnen. Eine deutsche Freundschaft.«
Was für Impulse meinen Sie?
Einerseits hat man sich in den städtischen Zentren schon früh Geschichten über diese staatsfreien Zonen erzählt, in denen sich Schrecken und eine gewisse Faszination miteinander verbanden. Andere Erzählungen haben ihren Ursprung in den Fluchtgemeinschaften selbst. Die ideengeschichtlich wohl folgenreichste ist die biblische Erzählung vom Exodus der Israeliten aus dem Sklavenhaus Ägypten. Sie hat seit mehr als 2000 Jahren immer wieder Widerstandsbewegungen inspiriert.
Jesus, so wird manchmal gesagt, sei der erste Anarchist gewesen.
Jedenfalls steht er in einer prophetischen Tradition, in der die Herrschaft von Menschen über Menschen grundsätzlich kritisch gesehen wird. Die biblische Rede vom »Königtum Gottes« richtet sich zunächst gegen die Einrichtung des Staates als solchen. Nachdem das Christentum mit der Konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert zur römischen Staatsreligion wurde, knüpften ketzerische Bewegungen und Dissidenten in schöner Regelmäßigkeit an diese Gedankenfigur an. Die englischen Diggers und Levellers im 17. Jahrhundert, religiöse Sozialisten wie Leonhard Ragaz, Martin Buber und die Befreiungstheologie stehen in dieser Tradition, auch Ernst Bloch und viele weitere linke Intellektuelle. Andere wiederum haben sich von der Idee des Nomadentums inspirieren lassen.
Können Sie das erläutern?
Der Hirtennomadismus entstand parallel zu den ersten Stadtstaaten an ihren Rändern und stand über den Tauschhandel in einer mal engeren, mal loseren Beziehung zu den Herrschaftszentren. Aus Sicht der oft unfreie Arbeit leistenden Bauern und Stadtbewohner erschien die Lebensweise derjenigen, die sich dem direkten Zugriff der Staatsgewalt durch das Ausweichen in schwer zugängliches Gelände leicht zu entziehen vermochten, als Inbegriff der Freiheit. Hin und wieder gelang es einem oder mehreren der Geknechteten, von den Nomaden aufgenommen zu werden. Von den Eliten und den mit ihnen verbundenen Denkern hingegen wurden die Nichtsesshaften häufig als »Barbaren« oder »Wilde« diffamiert. Wenngleich es hier punktuelle Ausnahmen gibt.
Haben Sie ein Beispiel bei der Hand?
Herodot lobte die Kampfkraft der skythischen Reiterkrieger und Platon verwies auf das Beispiel der Amazonen, um seine Ansicht zu untermauern, dass eine wehrhafte Polis auch Mädchen an der Waffe ausbilden und zum Militärdienst einziehen solle – im patriarchalen Denken der antiken Griechen eine reine Männerangelegenheit.
Aber handelt es sich bei den Amazonen nicht bloß um einen Mythos?
Einerseits ja, andererseits waren den Griechen damals zahlreiche Berichte über berittene Hirtenvölker aus der zentralasiatischen Steppe und von der Schwarzmeerküste bekannt, in denen auch Frauen in bewaffneten Jagdtrupps oder eben kriegerisch in Erscheinung traten. Archäologische Ausgrabungen brachten zahlreiche Gräber zutage, in denen Frauen mit Pferd, Waffe und Kampfverletzungen aufgefunden wurden. Neben den »Amazonen« gibt es in der politischen Ideengeschichte noch eine ganze Reihe weiterer populärer Figuren, die unauflöslich mit der Idee eines freien Lebens unter Gleichgestellten fernab der staatlich garantierten Zivilisation verbunden scheinen.
Wer denn?
Die Piraten der Karibik, die von Eric Hobsbawm beschriebenen Sozialbanditen, die Vagabunden. Im Daoismus lobt man das einfache Leben der Einsiedler und Bauern, die sich von technischen Errungenschaften fernhalten, die man mit bürokratischer Herrschaft in Verbindung bringt. In der klassischen arabischen Literatur ist es der »Beduine«, der für ein freies, ungebundenes Leben steht, und die Begeisterung von Autoren wie Bruce Chatwin, aber auch Gilles Deleuze und Félix Guattari muss man hier einordnen. Alle diese Figuren sind mehr oder wenig romantisch überhöht worden. Aber immer haben sie mit echten historischen Erfahrungen zu tun.
Aber muss man die Piraten im 17. und 18. Jahrhundert nicht einfach als Raubmörder bezeichnen?
Das waren sie auch, aber nicht nur. Insofern ist die Hollywood-Reihe »Fluch der Karibik« zwar frei erfunden, hat aber auch einen wahren Kern. Man darf nicht vergessen, dass viele von den Piraten ehemalige Matrosen der englischen Kriegs- oder Handelsmarine waren, die dort vielfach ein ganz erbärmliches Leben führten, äußerst schlecht und unregelmäßig bezahlt wurden und nur eine kurze Lebenserwartung hatten. Auf den Piratenschiffen, denen sie sich anschlossen, wurden die Kapitäne gewählt, die Beute wurde gerecht aufgeteilt und es gab so etwas wie eine Invalidenkasse für diejenigen Angehörigen der Mannschaft, die im Kampf oder während der Arbeit auf dem Schiff ihre Gliedmaßen verloren oder sich andere Verletzungen zuzogen. Oft nahmen sie entlaufene oder befreite afrikanische Sklaven in die Mannschaft auf. Die heute heftig umstrittene Figur des Indianers gehört auch hierhin.
Sie spielen auf das Stereotyp vom »Edlen Wilden« an.
Einerseits handelt es sich um ein Klischee. Man darf aber nicht außer Acht lassen, wie viel historische Wahrheit dann doch in ihm steckt. So gab es im 17. und 18. Jahrhundert immer wieder Kolonisten, insbesondere aus den ärmeren Schichten, die zu ihren indianischen Nachbarn überliefen. Und zwar in einem so großen Umfang, dass die ersten europäischen Siedlungen das mit schweren Strafen zu verhindern suchten. Auch entlaufene Sklaven fanden teils massenhaft Zuflucht.
Warum sprechen Sie weiterhin von »Indianern«?
Das englische Wort ist unter den Nachfahren der amerikanischen Urbevölkerung weiterhin gebräuchlich und auch bei vielen politisch Aktiven unter ihnen keineswegs verpönt: Nach wie vor existiert das American Indian Movement und der National Congress of the American Indian setzt sich seit 1944 für die Belange seiner Mitglieder ein. Die derzeit in Deutschland geführte Diskussion hilft den nach wie vor gegen Armut, Umweltzerstörung, für ihr Land und ihre politischen Autonomierechte kämpfenden indianischen Gemeinschaften kein bisschen weiter.
Sie befassen sich in Ihrem Buch auch mit der indigenen Aufstandsbewegung der Zapatisten im mexikanischen Chiapas.
Die Überlieferung sagt: Eine Gruppe von radikalen Linksintellektuellen floh aus den städtischen Zentren in die Wälder von Chiapas, um eine Guerillabewegung aufzubauen. Dort lernten sie von der Dorfbevölkerung, wie sie sich mit diesen wirklich für deren Interessen einsetzen können und traten 1994 als Zapatisten mit ihrem schriftstellerisch begabten Sprecher Subcommandante Marcos zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung. Ihr bekanntester Slogan lautete: »Eine andere Welt ist möglich.« Er verbreitete sich mit der globalisierungskritischen Bewegung über die gesamte Weltkugel.
Was sind die wichtigsten Erkenntnisse Ihrer historischen Exkursionen?
Die Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann hat darauf aufmerksam gemacht, dass Flucht eine beispielgebende Form des Widerstands sein kann. Das weltgeschichtlich folgenreichste Beispiel sind die Gemeinschaften entflohener Sklaven im Vorfeld der haitianischen Revolution. Sie haben gezeigt, dass ein besseres Leben jenseits der Plantagenwirtschaft möglich war. Ich habe zudem immer deutlicher erkannt, dass Herrschaftskritik bis hin zur Staatsfeindschaft kein Alleinstellungsmerkmal der europäischen Geschichte ist. Sie tritt vielmehr immer dann auf, wenn die Mächtigen ihre repressiven Seiten zeigen. Ob überambitionierter Clan-Führer, Pharao, Maya-Herrscher oder Assyrer-König: Sie alle mussten damit rechnen, dass ihnen die Gefolgsleute von der Stange gingen.
Findet so etwas auch heute noch statt?
Sicher ist es schwerer geworden, dem Zugriff des Staates zu entgehen. Aber Beispiele wie der Aufstand in Chiapas oder der Versuch eines demokratischen Konföderalismus in Rojava zeigen,dass von den Randgebieten bis heute wichtige emanzipatorische Impulse ausgehen. Besonders wichtig ist mir der Hinweis, dass die Ideale von Freiheit und Gleichheit überall auf dem Globus anzutreffen sind. Dass allein der Westen auf sie Anspruch erheben kann, ist eine Geschichtsmythe, die dabei hilft, den eigenen Herrschaftsanspruch zu untermauern. Heute kommt es darauf an, auf Augenhöhe voneinander zu lernen.
Thomas Wagner: Fahnenflucht in die Freiheit. Wie der Staat sich seine Feinde schuf – Skizzen zur Globalgeschichte der Demokratie. Matthes & Seitz, 271 S., geb., 25€.
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