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Kein Verbrechen am Rande
Linke will Gerechtigkeit für von Nazis als »Ballastexistenzen« Ermordete und Zwangssterilisierte
Dietrich Allers war Jurist. 1932 trat er in die SA und die NSDAP ein und machte nach der Machtübertragung an Hitler und seine Partei Karriere. In die Geschichte ging er als einer der maßgeblichen Organisatoren der »Aktion T4« ein, deren Ziel die massenhafte Tötung von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen war und der auch viele psychisch Kranke zum Opfer fielen. »T4« stand für die Zentraldienststelle in der Berliner Tiergartenstraße 4, deren Geschäftsführer Allers war. Die Todesmaschine, für die auch der verharmlosende Begriff »Euthanasie« (griechisch »schöner Tod«) verwendet wurde, verschlang Menschen, die von den Nazis zu einer unzumutbaren Last für den »gesunden Volkskörper« erklärt worden waren.
Allers sorgte für die Geheimhaltung der Morde in Pflegeanstalten, rechnete Kosten ab, sorgte für ausreichend skrupelloses Personal, unterzeichnete gelegentlich selbst Sterbeurkunden und »Trostbriefe« an Angehörige, inspizierte »Euthanasie«-Tötungszentren sowie Vernichtungslager in den nach Kriegsbeginn besetzten Gebieten. In Italien kümmerte er sich um die Deportation von Juden.
Obwohl all das über ihn bekannt war, wurde Allers 1949 in Westdeutschland »entnazifiziert«, er arbeitete als Anwalt. Erst Ende 1968 wurde er im Prozess gegen die vier leitenden Funktionäre des NS-Euthanasieprogramms wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 34 549 Menschen zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Er musste die Haft jedoch nicht antreten, weil ihm die Untersuchungshaft seit Prozessbeginn und andere Haftzeiten nach Kriegsende angerechnet wurden. Allers starb 1975 in München.
Die Linksfraktion im Bundestag hat jetzt eine Initiative für die Aufarbeitung der »Euthanasie«-Morde und -Gewalttaten gestartet. In einem vom parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktion, Jan Korte, initiierten Antrag an das Parlament wird daran erinnert, dass der Bundestag erst 2011 beschlossen hat, den Opfern dieser Verbrechen in der Berliner Tiergartenstraße, am Ort der Täter, eine Gedenkstätte zu widmen. Dieser wurde im September 2014 eingeweiht.
Mit den Vorschlägen der Linken befasste sich am Montag der Bundestagsausschuss für Kultur und Medien. Experten sprachen in einer Anhörung von bis zu 300 000 Frauen, Männern, Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen, die in staatlichen und privaten Heil- und Pflegeanstalten sowie Konzentrationslagern ermordet wurden. Zunächst gab es in Deutschland sechs Tötungszentren mit Vergasungsanlagen, nach Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 wurde die »Aktion T4« auf besetzte Gebiete in Polen, der Sowjetunion, Frankreich und Tschechien ausgeweitet. Deren Grundlage war das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«. Es legitimierte außerdem Zwangsterilisationen an nahezu 400 000 Männern und Frauen.
Die Linke will dafür sorgen, dass sowohl die Ermordeten als auch die Zwangssterilisierten als Opfer der NS-Verfolgung anerkannt werden. Zwar wurde das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« bereits 2007 durch den Bundestag geächtet. Doch die Opfer seien dadurch nur scheinbar rehabilitiert worden, monieren die Antragsteller. Deshalb hatten auch die Grünen in der vergangenen Legislaturperiode bereits eine parlamentarische Initiative gestartet, die jedoch von der Großen Koalition abgelehnt wurde. Nun sind die Grünen Teil der Regierung.
In der Anhörung konnten viele Probleme nur kurz benannt werden, so etwa jenes, dass eben bei weitem nicht nur Ärzte und Pflegekräfte für die Verbrechen verantwortlich waren. Vielmehr waren zahlreiche staatliche und kirchliche Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge in deren Organisation eingebunden – und viele Juristen. Letzteren reichten Diagnosen wie »Schwachsinn«, »Schizophrenie«, »erbliche Fallsucht« und »manisch-depressives Irresein«, »schwerer Alkoholismus« oder »erbliche Taubheit«, »schwere Missbildungen«, »erbliche Blindheit« und Bewegungsstörungen, um ihre Unterschrift unter faktische Todesurteile zu setzen.
Der Antisemitismus- und NS-Forscher Wolfgang Benz wies darauf hin, dass die Tötung unheilbar Kranker als deren »Erlösung« und als Gebot einer wirkungsvollen Erbgesundheitspolitik durchaus öffentlich thematisiert wurde. Er erinnerte an Spielfilme wie »Das Erbe« (1935) oder »Ich klage an« (1941) sowie an Schulbücher mit Rechenexempeln über »unnütze Esser«, die für die deutsche »Volksgemeinschaft« eine unerträgliche finanzielle Belastung darstellten. Die »Aktion Gnadentod«, wie sie auch genannt wurde, sei »nur der Beginn einer Bevölkerungspolitik durch systematischen Massenmord« gewesen, so Benz. »Die Erfahrungen und das Personal der ›Aktion T4‹ wurden bereits wenig später, im Jahr 1942, in den Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka auf polnischem Gebiet bei der ›Endlösung der Judenfrage‹ eingesetzt«, sagte der Historiker.
Nach 1945 tat man sich sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR lange schwer mit der Aufarbeitung dieser Naziverbrechen. Es gab politische Vorbehalte gegen eine pauschale Anerkennung gerade dieser Geschädigten als NS-Opfer. Zugleich konnten viele Täter ihre Karriere in den Bereichen Medizin, Psychiatrie, Rechtswesen, Verwaltung, Fürsorge und in den Wohlfahrtsverbänden in der alten Bundesrepublik nahtlos fortsetzen. Und es gab aufgrund mangelnder gesellschaftlicher Aufarbeitung eine Kontinuität rassistischen und menschenverachtenden Denkens, die sich insbesondere in den Heimen für Kinder und Jugendliche sowie für psychisch Kranke zeigte.
Die Leiterin der Gedenkstätte für Opfer der NS-»Euthanasie« in Bernburg in Sachsen-Anhalt, Ute Hoffmann, wies auf das Problem der adäquaten Wissensvermittlung hin. Junge Menschen seien heute »nur bedingt in der Lage, sich die Auswirkungen einer Diktatur vorstellen zu können«, sagte sie. Es gehe in der Bildungsarbeit nicht nur um die Aufnahme historischer Fakten und den Respekt vor den Opfern. Vielmehr müsse nach aktuellen Gefährdungen Schwächerer auch in einem demokratischen Staat gefragt werden. Dafür brauche es mehr staatliche Unterstützung.
Der Psychiater und Mediziner Michael von Cranach, der mehrere Bücher zu Psychiatrie und »Euthanasie« in der NS-Zeit publiziert hat, erinnerte daran, dass viele der an den Verbrechen beteiligten Kliniken ab 1945 nicht geschlossen, sondern »reformiert« weitergeführt worden seien. Es gelte jetzt zu verhindern, dass weitere Kranken- und Verwaltungsakten vernichtet würden. An einigen Orten sei das bereits geschehen. Da die Aufbewahrungspflicht für solche Unterlagen jüngst verkürzt worden sei, sei die Sicherstellung der Unterlagen extrem dringlich, mahnte Cranach. Krankenhäuser sollten verpflichtet werden, ein historisches Archiv mit entsprechender Betreuung einzurichten oder die Akten an ein öffentliches Archiv zu übergeben, schlug er vor. Ebenso sollten einstige Täterorte Unterstützung erhalten, um in ihren Räumen über die Verbrechen zu informieren.
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