Eine Arche für Kriegsgegner

Die Organisation Kowtscheg hilft in Istanbul Russen, die vor der Mobilmachung aus ihrer Heimat flüchten

  • Emil Herrmann, Istanbul
  • Lesedauer: 3 Min.

Istanbul zeigt sich an diesem Samstag von seiner besten Seite. Im warmen Sonnenschein flanieren Einheimische und Touristen durch die lebhaften Gassen der Stadt. Doch der Schein der Normalität trügt. Seitdem Russlands Präsident Wladimir Putin die Teilmobilmachung angeordnet hat, verlassen viele Russen fluchtartig das Land. Wie schon zu Beginn des Krieges in der Ukraine zieht es viele nach Istanbul.

Dort kümmert sich Eva Rapoport von »Kowtscheg« (Arche) um die Neuankömmlinge. Gemeinsam mit anderen Russen, die alle frisch angekommen waren, gründete sie im März die Istanbuler Zweigstelle der Organisation aus Jerewan. »Wir mussten etwas unternehmen. Nachdem der Krieg in der Ukraine begann, konnten wir nicht einfach so weitermachen, als wäre nichts passiert«, sagt die Freiwillige im Gespräch mit »nd«. Nach dem Prinzip »Von Russen für Russen« kümmert sich die Organisation mit einer Vielzahl von Angeboten um die Migrant*innen. Die Leistungen reichen von kostenlosen Unterkünften und Sprachkursen über psychologische Hilfe bis hin zu nützlichen Informationen zur Migration.

Die Hilfe von »Kowtscheg« ist in diesen Tagen so gefragt, wie seit März nicht mehr. Während des Gesprächs erhält Rapoport immer wieder Nachrichten von Neuankömmlingen und Hilfesuchenden, die Russland verlassen wollen. Über Telegram vermitteln sie und ihre Kolleg*innen den Migrant*innen einen Platz in einer ihrer Unterkünfte. Danach unterstützen sie diese bei der Beantragung von humanitären Visa und geben ihnen Tipps zum Leben in der Türkei.

»In den Flugzeugen und Autos, die Russland verlassen, sind momentan fast nur Männer zu sehen. Frauen hingegen kaum. Niemand weiß, wie lange man das Land noch verlassen kann«, schildert die gelernte Anthropologin die Situation. Viele, die eingezogen werden könnten, gehen lieber ins Gefängnis oder verstecken sich im Wald, als in diesen Krieg zu ziehen. »Niemand will für Putin sterben«, fügt Rapoport hinzu.

Genau hierin liegt ein bedeutender Unterschied zur Ausreisewelle im Frühling. Im März und April verließen viele junge Menschen Russland aus moralischen Gründen. Sie kehrten ihrer Heimat den Rücken und zeigten damit, dass sie mit dem Regime und dem Krieg nichts zu tun haben wollen. Für die jetzigen Neuankömmlinge geht es nun nicht mehr um eine politische Einstellung. Es geht um Leben und Tod.

Vor diesem Hintergrund kritisiert Rapoport auch die Reaktion einiger westlicher Staaten. »Finnland und andere Länder schließen jetzt die Grenzen zu Russland. Das ist unangebracht und schrecklich.« Diesen Menschen zu helfen ist für sie eine humanitäre Angelegenheit.

Wer es aus Russland rausgeschafft hat, steht vor einem Berg von Herausforderungen. Der Umzug in ein neues Land ist immer schwierig. Für Menschen, die keine Auslandserfahrung haben und keine Fremdsprachen sprechen, ist es noch schwerer. Im Gegensatz zu den meist gut gebildeten und kosmopolitischen Migrant*innen der Ausreisewelle im Frühjahr trifft dies nun auf viele Neuankömmlinge zu. Auch der Umstand, dass sie im Ausland nicht mit ihren Karten bezahlen oder Geld abheben können, macht es schwieriger. An dieser Stelle treffen westliche Sanktionen die Falschen, meint Rapoport.

In Russland zeigt sich unterdessen, dass die Teilmobilmachung mancherorts völlig wahllos abläuft. Auch ältere Männer mit mehreren Kindern und Menschen mit Einschränkungen erhalten Post von der Armee. So bekommt die breite russische Bevölkerung den Krieg nun viel deutlicher zu spüren als bisher. Vielerorts, wie in der Kaukasus-Republik Dagestan, stößt das Handeln der Regierung auf Ablehnung.

So hat der Schrecken der Mobilmachung für Rapoport auch eine gute Seite. »Vielleicht kommen wir so dem Ende Putins näher,« so ihre vorsichtige Vermutung.

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