- Wirtschaft und Umwelt
- Mindestlohnerhöhung
Zwölf Euro sind nicht genug
Von der Mindestlohnerhöhung werden rund 6,6 Millionen Beschäftigte erfasst
Am 3. Juni konnte sich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) feiern. An dem Tag stimmte eine Mehrheit von 398 von 735 Bundestagsmitgliedern für die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Oktober auf zwölf Euro. Es ist eines der zentralen SPD-Versprechen bei der Bundestagswahl vergangenes Jahr gewesen, dessen Umsetzung die Aufgabe von Heils Ressort war. „Es geht nicht nur um sozialen Ausgleich; uns als Koalition geht es auch um sozialen Fortschritt für Deutschland», feierte Heil folglich sich und die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP Anfang Juni.
In der Tat kämpften auch die Gewerkschaften lange für die Anhebung auf zwölf Euro. „Wir müssen den Mindestlohn armutsfest machen, denn das bringt erhebliche Mehreinnahmen für den Fiskus und die Sozialkassen und erspart Menschen den Weg zum Amt», forderte zum Beispiel der damalige DGB-Chef Reiner Hoffmann Anfang 2020 in einem Interview. Doch ganz so einfach durchsetzbar war eine Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro nicht.
Normalerweise macht die Mindestlohnkommission einen Vorschlag zur Höhe der Anpassung der gesetzlichen Lohnuntergrenze, dem die Bundesregierung dann folgt. Jedoch besteht die Kommission zu gleichen Teilen aus Vertreter*innen der Gewerkschafts- und Arbeitgeberseite. Und letztere hätten einer so hohen Anhebung nie zugestimmt. Eine Anhebung per Gesetz musste also her. „Wir werden den gesetzlichen Mindestlohn in einer einmaligen Anpassung auf zwölf Euro pro Stunde erhöhen», hielten dann auch SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag fest, nachdem SPD und Grüne in ihren Wahlkämpfen eine außerplanmäßige Anhebung versprochen hatten.
Derzeit beträgt der Mindestlohn noch 10,45 Euro pro Stunde. Von der Anhebung auf zwölf Euro werden laut Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung rund 6,6 Millionen Arbeitnehmer*innen profitieren, die derzeit noch unterhalb der neuen Lohnuntergrenze verdienen. Das entspricht 17,8 Prozent aller Beschäftigten, die einen gesetzlichen Anspruch auf den Mindestlohn haben.
Dabei profitieren vor allem Beschäftigte in Ostdeutschland von der Anhebung. Laut WSI liegt die Quote hier bei 29,1 Prozent. In Gegenden wie Sonneberg in Thüringen oder Teltow-Fläming in Brandenburg profitieren wegen des dort niedrigen Lohnniveaus sogar 44 beziehungsweise 43,1 Prozent aller Beschäftigten, während es in Westdeutschland inklusive Berlin im Schnitt 16,1 Prozent sind. So verdienen im niedersächsischen Wolfsburg derzeit nur 7,9 Prozent der Beschäftigten unter zwölf Euro.
Hinzu kommt, dass es im Zuge der Anhebung in letzter Zeit in einigen Niedriglohnbranchen zu durchaus sehenswerten Tarifabschlüssen kam. So steigt der Branchenmindestlohn bei den rund 700 000 Gebäudereiniger*innen zum 1. Oktober auf 13 Euro. Das ist ein Plus von 12,6 Prozent. Auch bei den Bodenbeschäftigten der Lufthansa wurde der konzernweite Mindestlohn auf 13 Euro angehoben.
»Die Erhöhung auf zwölf Euro pro Stunde ist ein Erfolg der Gewerkschaftsbewegung und der vielen Millionen Menschen im Land, die jahrelang für die Erhöhung der Lohnuntergrenze gestritten haben», feiert deshalb etwa DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell. Für viele bedeute dies einen Lichtblick in diesen schwierigen Zeiten.
Schließlich verkaufte die Bundesregierung die Mindestlohnanhebung schnell als eine konjunkturstabilisierende Anti-Krisen-Maßnahme. „Die heute vom Bundeskabinett beschlossene Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro sorgt für eine Erhöhung des Nettoeinkommens für viele Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer», hielt die Koalition in ihrem Beschluss zum ersten Entlastungspaket im Rahmen der Energiepreiskrise im Februar fest. So leisten die Anhebung und die jüngsten Tarifabschlüsse laut dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) „einen wichtigen Beitrag dabei, die Realeinkommen der abhängig Beschäftigten nicht noch stärker zurückgehen zu lassen».
Angesichts solcher Effekte fällt es auch der Opposition schwer, die Anhebung zu kritisieren. So stimmte auch die Linke-Bundestagsfraktion für den entsprechenden Gesetzesvorschlag der Ampel, so sprach die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Susanne Ferschl zuvor in ihrer Rede von einer vernünftigen Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro. Was sie jedoch kritisierte, ist, dass die Bundesregierung im Zuge der Anhebung auch die Minijob-Regeln ausweitete. Dadurch drohe „die weitere Verdrängung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung», so Ferschl.
Hinzu kommt, dass der Mindestlohn gar nicht für alle Beschäftigten gilt. Zum Beispiel haben Auszubildende nach dem Berufsbildungsgesetz keinen Anspruch, auch für Praktikant*innen gilt er nicht. Und auch für Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten ihrer Beschäftigung, Strafgefangene oder Menschen in Behindertenwerkstätten gibt es keinen Mindestlohn.
Vor allem aber ist er als eine Grenze, die einen armutsfesten Lohn garantieren sollte, eigentlich schon wieder überholt. Die Linke fordert deshalb schon länger eine Anhebung auf 13 Euro. Zumal die derzeit extrem hohe Inflationsrate Menschen bis weit in die Mittelschicht hinein in Bedrängnis bringt.
Deshalb hat DGB-Vorstand Körzell nicht nur lobende Worte bezüglich der Mindestlohnerhöhung. „Der Mindestlohn reicht nicht für echte Teilhabe. Das verschärft sich aktuell angesichts der steigenden Preise für Energie und Lebensmittel, der Mindestlohn wird diesen Preisschub nicht abfedern», kritisiert er und fordert weitere Maßnahmen: »Die Bundesregierung darf nicht zulassen, dass sich die Armut bis weit in die Mittelschicht frisst.»
Disclaimer: In einer früheren Version dieses Artikels wurde behauptet, dass die Linksfraktion gegen die Anhebung des Mindestlohns stimmte. Das ist falsch und wurde korrigiert.
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