Kiews gewiefte Strategen

Die ukrainische Offensive im Donbass und das Geheimnis ihres Erfolges

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Tinte, mit der Russlands Präsident Wladimir Putin am Freitag die völkerrechtswidrigen Annexionen mehrerer ukrainischer Regionen besiegelt hatte, war noch nicht trocken, da eroberten ukrainische Soldaten die Stadt Lyman von den russischen Besatzern zurück. Der vor allem als Logistikzentrum wichtige Ort liegt im Osten der Ukraine und gehört zum Donezker Gebiet, das seit Freitag – nach Moskauer Sicht – russisches Staatsgebiet ist.

Nach ihrer Niederlage im nordukrainischen Gebiet Charkiw versuchten die russischen Truppen, eine neue Frontlinie entlang der Flüsse Oskil und Siwerskyj Donez aufzubauen. Lyman hatte Bedeutung, weil man von hier irgendwann wieder in den von Kiew gehaltenen Ballungsraum Slowjansk-Kramatorsk vorstoßen wollte. Doch es kam anders. Nur durch Rückzug konnten 5000 russische Soldaten, die in und um Lyman in Stellung waren, ihrem Tod oder einer Gefangenschaft entkommen.

Wolodymyr Selenskyj triumphiert und versuchte den sich verstärkenden Zwist in der russischen Führung zu verstärken. Der Sieg bei Lyman, so der ukrainische Präsident, sei ein Warnschuss für diejenigen, die noch an Putins Seite sind. Sie sollten besser das Problem »mit dem einen« lösen, »der diesen für Russland sinnlosen Krieg gegen die Ukraine begonnen hat«. Anderenfalls würden sie einer nach dem anderen zu Sündenböcken gemacht – oder getötet, prophezeite Selenskyj.

Die raschen Erfolge der Ende August und Anfang September im Süden und Osten begonnenen ukrainischen Gegenoffensiven überraschen viele Beobachter. Nicht so den Pressesprecher des Pentagon. Air Force-General Pat Ryder meinte jüngst: Wenn jemand überrascht ist, »dann sind es wahrscheinlich die Russen«. Die Ukrainer dagegen hätten seit Beginn der russischen Invasion »eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit in ihrer Fähigkeit« bewiesen. Kiews Militär habe die Nato-Kampftaktik übernommen und gekonnt westliche Waffensysteme mit solchen aus der Sowjetzeit verbunden.

Das war einem US-Journalisten denn doch zu allgemein. Er fragte gezielt nach bestimmten Übungen, die es vor Beginn der Offensive gegeben haben soll. Ryder verstand, was gemeint war, dementierte nicht, wollte aber dennoch »nicht auf die Einzelheiten eingehen«. Er sprach stattdessen von einem militärischen Dialog auf verschiedenen Ebenen. Man versorge »die Ukrainer mit Informationen, die ihnen helfen, die Bedrohungen, denen sie ausgesetzt sind, besser zu verstehen und ihr Land gegen die russische Aggression zu verteidigen«. Damit weder die USA noch die Nato als Kriegspartei angesehen werden können, fügte General Ryder hinzu, es sei dabei stets klar, dass es »die Ukrainer sind, die endgültigen Entscheidungen über ihre Operationen treffen«.

Inzwischen sickerte unter anderem durch Recherchen des US-Nachrichtensenders CNN und der »New York Times« (NYT) durch, was den aktuellen Entscheidungen vorausging. Im Sommer bereits habe es gemeinsame Stabsübungen von ukrainischem und US-Militär gegeben. Dabei analysierten die US-Militärs Kiews Pläne zur Gegenoffensive und warnten vor deren Umsetzung. Der ukrainische Präsident hatte seinen Generälen bereits im Frühsommer mitgeteilt, er wolle der Welt »mit einem dramatischen Schritt« zeigen, dass sein Land die russische Invasion zurückdrängen könne. So wollte er die Moral seiner Kämpfer stärken und dem Westen zeigen: Die Ukraine kann gewinnen – sie braucht nur mehr Unterstützung aus dem Westen.

Auf Befehl des Präsidenten entwarf der ukrainische Generalstab einen Plan für einen breit angelegten Angriff im Süden, um Cherson zurückzuerobern und Mariupol von den russischen Streitkräften im Osten abzuschneiden.

Dieser Operation hätte die Wucht gefehlt. Das ahnten die ukrainischen Befehlshaber. Deshalb, so erzählten es hochrangige US-Beamte der »NYT«, fragte sie US-amerikanische und britische Geheimdienstler »um Rat«. »Wir haben einige Modellierungen und Übungen durchgeführt«, wird Colin Kahl, Unterstaatssekretär für Verteidigungspolitik der Biden-Regierung zitiert. Analysen hätten gezeigt, »dass bestimmte Wege für eine Gegenoffensive wahrscheinlich erfolgreicher sein würden als andere.«

Westliche Geheimdienste – der deutsche Bundesnachrichtendienst ist beteiligt – halfen beim Verdichten der Lagebilder. Sie identifizierten nicht nur wichtige Nachschubstützpunkte der russischen Truppen, sondern stellten fest, dass Moskau einen Großteil seiner kampfstarken Kräfte in den Süden verlegte. Aufgrund geschickt lancierter Informationen aus Kiew erwarteten Putins Generale dort den Gegenschlag.

Auch Kahl gibt sich als Vertreter einer am Krieg nicht beteiligten Macht bescheiden. Man habe nur »Ratschläge« gegeben, die die Ukrainer dann »verinnerlichten«, um »eigene Entscheidung« zu treffen. Auch andere hochrangige Offizielle wie US-Sicherheitsberater Jake Sullivan und Generalstabschef Mark A. Milley seien involviert gewesen, hört man. In Kiew kam es neben den Beratungen mit britischen Experten täglich zu Konsultationen zwischen ukrainischen Generalen und dem US-Verteidigungsattaché, Brigadegeneral Garrick Harmon. Gemeinsam grenzte man die Operationsziele ein, nahm vor allem den Osten der Ukraine ins Visier, diskutierte darüber, welche Kräfte und Waffenarten für welche Szenarien gebraucht werden, um bestimmte Ziele in verschiedenen Szenarien zu erreichen.

Dass die multinationalen Planspiele, die Pentagon-Sprecher Ryder unter »routinemäßigem militärischen Dialog« abbucht, überhaupt publik wurden, hat sicher eine klare Absicht. Man will den russischen Angreifern klarmachen, dass sie es inzwischen mit kriegserfahrenen Strategen und gewieften Taktikern zu tun haben. Aus diesem Signal zog der russische Oberbefehlshaber Putin und seine nachgeordneten Kommandeure bislang jedoch nicht die gewünschten Schlussfolgerungen.

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