Russland geht gegen linke Aktivisten vor

Videoblogger Andrei Rudoi wehrt sich gegen Hausdurchsuchung, Feministin wird inhaftiert

  • Ewgeniy Kasakow
  • Lesedauer: 4 Min.
Der linke Aktivist Andrei Rudoi glaubt, dass er wegen seiner Aktivität bald inhaftiert wird.
Der linke Aktivist Andrei Rudoi glaubt, dass er wegen seiner Aktivität bald inhaftiert wird.

Überraschend kommt der ungebetene Besuch nicht. Als am Nachmittag des 4. Oktober fünf Männer und eine Frau in Zivil an seine Wohnungstür hämmern, ist Andrei Rudoi vorbereitet. Bevor er seinen Anwalt anruft, lädt der Videoblogger aus Dscherschinsk bei Nischnij Nowgorod seinen neuesten Beitrag hoch und informiert seine Follower, dass dies wohl vorläufig der letzte sein wird.

Hausdurchsuchungen sind für Rudoi nichts Neues. Seit 2011 ist der 32-Jährige politisch aktiv. Damals schloss er sich den Protesten gegen die Wahlmanipulationen und der Occupy-Bewegung in Nischnij Nowgorod an. Zwei Jahre später stand erstmals die Polizei an seiner Tür. Bis 2015 koordinierte Rudoi die Ortsgruppe der Linken Front (LF) in Nischni Nowgorod, überwarf sich aber mit LF-Anführer Sergei Udalzow. In den folgenden Jahren gründete er die lokale Zelle der Lehrergesellschaft »Utschitel« und engagierte sich in der »Arbeiterplattform« (»Rabotschaja Platforma«), die aus der Russländischen Sozialistischen Bewegung (RSD) entstanden war. Die trotzkistische RSD ging 2019 in der linksstalinistischen »Union der Marxisten« auf.

Bereits 2016 ging Rudoi mit seinem Youtube-Kanal »Westnik Buri« (»Der Sturmverkünder«) online und wurde zu einem der bekanntesten linken Netzaktivisten Russlands. In seinen Videos spricht er über historische Themen, kritisiert den »roten Putinismus« und Querfrontstrategien und analysiert verschiedene Positionen der Linken zu Feminismus, Sexualaufklärung und Familie. Zuletzt hatte der Kanal 128000 Follower.

Immer wieder wurde Rudoi für seine Tätigkeit kritisiert. Als er 2014 sagte, die Annexion der Krim nütze vor allem den Interessen des russischen Kapitals, gleichzeitig aber humanitäre Hilfe für den Donbass sammelte, warfen ihm russische Linkspatrioten Verrat vor. Und die Ukraine nahm ihn in das berüchtigte Register für »Friedensstifter« auf, in dem Staatsfeinde und Separatistenunterstützer aufgelistet werden. Auch die Reaktion auf die Invasion in der Ukraine im Februar sorgte für Kontroversen. Seit dem ersten Tag griff »Westnik Buri« die linken Unterstützer der »Spezialoperation« an und deckte die Interessen der Oligarchen in den »Volksrepubliken« auf, konnte aber auch der Gegenseite nichts abgewinnen. Statt Demonstrationen mit ukrainischen Nationalflaggen und Peace-Zeichen seien Streiks und Klassenorganisierung angesagt, so der Youtuber.

Da Rudoi den Staatsvertreter*innen am 4. Oktober die Tür nicht öffnete, suchten diese seine Frau auf der Arbeit auf und forderten sie auf, mitzukommen, »um ein paar Fragen zu beantworten«. Doch sie weigerte sich. Auch dem Anwalt konnten die Beamten keinen Durchsuchungsbefehl vorlegen, sie pochten vergeblich auf eine »Wohnungsbesichtigung«. Grund für das dringliche Interesse an Rudoi und seiner Frau war ein Post im Netzwerk vk.vom, so viel konnten sie erfahren. Dort war in einer oppositionellen Gruppe ein Antikriegsgraffito geteilt worden. Gegen ihn werde deshalb wegen »Diskreditierung der Streitkräfte« ermittelt, schrieb Rudoi auf Telegram. Bis zu drei Jahre Gefängnis drohen ihm. Dass die Gruppe bereits mehrere Jahre alt ist, stört die Ermittler nicht. Rudoi ist sich sicher, dass die »Gäste« wiederkommen werden, mit einem Durchsuchungsbefehl oder zu einem für ihn besonderen ungünstigen Zeitpunkt. Der Aktivist geht davon aus, schon bald im Gefängnis zu landen.

Das Vorgehen gegen Rudoi ist kein Einzelfall. Seit Beginn der Teilmobilmachung für den Krieg in der Ukraine haben russische Behörden ihre Repressionen gegen namhafte linke Aktivisten verschärft. Ende September nahm die Polizei in St. Petersburg elf Menschen wegen des Verdachts auf »Telefonterrorismus« fest. Sie sollen Falschmeldungen über angeblich platzierte Sprengsätze verbreitet haben. Zu den Inhaftierten gehörte auch die bekannte Autorin Bella Rapoport, die inzwischen wieder auf freiem Fuß ist. Am Mittwoch durchsuchten Ermittler die Wohnungen der Feministinnen Walerija Kowalischina und Jewgenija Kasanzewa. Kasanzewa hatte Männern im wehrfähigen Alter bei der Ausreise aus Russland geholfen. Zudem versuchte die Polizei, sich Zutritt zur Wohnung einer weiteren Aktivistin, Pallada Baschurowa, zu verschaffen. Am Donnerstag wurde bekannt, dass Kowalischina zunächst 48 Stunden in einem Untersuchungsgefängnis verbringen muss. Anschließend soll ihr der Prozess in Sachen »Telefonterrorismus« gemacht werden.

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