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Menschenrechtler statt Politiker: Gut so!
Daniel Säwert über die Friedensnobelpreisträger 2022
Nawalnyj oder Selenskyj? Hauptsache gegen Putin. So könnte man die Ausgangslage der beiden aussichtsreichsten Kandidaten für den diesjährigen Friedensnobelpreis beschreiben. Bei den Buchmachern lagen der russische Oppositionspolitiker und der ukrainische Präsident weit vorne. Alexej Nawalnyj ist seit Jahren das Gesicht des politischen Widerstandes gegen Russlands Dauerpräsident Wladimir Putin. Und Wolodymyr Selenskyj sieht sich seit Ende Februar mit der Invasion der russischen Armee konfrontiert, die er nach über sieben Monaten immer erfolgreicher zurückschlägt.
Dass weder Nawalnyj noch Selenskyj den Friedensnobelpreis bekommen und stattdessen die russische Menschenrechtsorganisation Memorial, der belarussische Menschenrechtler Ales Bjaljazki und seine Organisation Wjasna sowie das ukrainische Zentrum für bürgerliche Freiheiten ausgezeichnet werden, ist nur konsequent. Auch wenn es die Entscheidung nicht beeinflusste, hätte Selenskyjs jüngste Forderung nach einem Präventivschlag der Nato gegen Russland den Preis und auch das Komitee schlecht aussehen lassen. Zudem werde in der Ukraine »Krieg geführt, nicht Frieden gestiftet«, gab Dan Smith, Direktor des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri, vor der Verleihung zu bedenken.
Mit seiner Entscheidung für die drei Organisationen aus Ländern, die in den Ukraine-Krieg involviert sind, knüpft das Komitee an die Tradition der beiden Weltkriege an. Auch damals wurde der Friedensnobelpreis nicht an Personen vergeben, stattdessen etwa an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Kriegsbeteiligte sind die diesjährigen Preisträger jedoch nicht, sondern Vertreter der Zivilgesellschaft ihrer Länder, wie das Komitee in der Begründung betont. Über viele Jahre haben die Organisationen Kriegsverbrechen, Machtmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und angeprangert. Und sie haben sich dafür eingesetzt, dass in den Ländern zumindest die Grundrechte der Menschen gewahrt werden. »Gemeinsam demonstrieren sie die Bedeutung der Zivilgesellschaft für den Frieden und die Demokratie«, schreibt das Nobelpreiskomitee.
Demokratie gibt es in Russland und Belarus schon lange nicht mehr. Und auch mit dem Frieden ist es in der Region spätestens seit dem 24. Februar vorbei. Es ist bezeichnend, dass Memorial am Tag der Preisverkündung vor einem Moskauer Gericht um seine Räumlichkeiten und damit auch um seine Zukunft kämpfen muss. Bereits Ende Dezember 2021 war ein Großteil der Organisation in Russland verboten und eine normale Arbeit damit unmöglich gemacht worden. Auch deshalb kam die Frage auf, »welches« Memorial eigentlich die Auszeichnung erhält. Dass ein Friedensnobelpreis keinen Schutz vor der harten Hand des Kreml bietet, musste erst vor Kurzem der letztjährige Preisträger Dmtrij Muratow mit seiner »Nowaja Gaseta« erfahren, als der Zeitung die Lizenz entzogen wurde.
Auch in Belarus wird sich Ales Bjalazki kaum über den Preis freuen können. Für die 60-jährige Ikone der belarussischen Menschenrechtsbewegung ist es bereits die fünfte Nominierung für den Friedensnobelpreis. Nach Oslo wird Bjaljazki nicht reisen können, denn seit Juli 2021 sitzt er in einem der gefürchtetsten Gefängnisse seines Heimatlandes. Auch seine Organisation Wjasna ist in Belarus verboten und in Teilen als extremistisch eingestuft.
Putins Angriff auf die Ukraine ist für die Gesellschaften in der Region zu einer Zäsur geworden. Das gilt auch für das 2007 in Kiew gegründete Zentrum für bürgerliche Freiheiten. Statt sich für demokratische Reformen in ihrer Heimat stark zu machen, dokumentieren die Menschenrechtler*innen seit Monaten die Verbrechen der russischen Truppen. Mit der Auszeichnung würdigt das Nobelpreiskomitee die Pionierarbeit bei der Beweissammlung für mögliche Prozesse.
Die Ukraine und Putin bleiben der Dreh- und Angelpunkt des (westlichen) Weltgeschehens. Viele Kandidat*innen hätten den Friedensnobelpreis in diesem Jahr mehr als verdient gehabt, wie die iranische Frauenrechtlerin Masih Alinejad, der uigurische Menschenrechtsaktivist Ilham Tohti oder die Hongkonger Menschenrechtler Agnes Chow und Nathan Law. Sie alle engagieren sich an den Brennpunkten dieser Welt. Für die Menschen im Westen aber ist der Krieg in der Ukraine der Konflikt, der ihnen am nächsten ist. Und letztendlich wird der Friedensnobelpreis von weißen Europäer*innen vergeben.
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