Deutschland hat koloniale Amnesie

Zehn Jahre Oranienplatz-Besetzung: Mit der Black-Power Ikone Angela Davis erhält die Geflüchtetenbewegung prominenten Besuch

  • Lola Zeller
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Oranienplatz in Kreuzberg füllt sich schnell. Erst Hunderte, dann Tausende strömen am Donnerstagabend aus allen Richtungen herbei und versuchen einen Blick auf die Bühne zu erhaschen. Genau hier kamen vor zehn Jahren Hunderte Geflüchtete nach einem 28-tägigen Fußmarsch aus Würzburg an, um mit einer Platzbesetzung in Berlin für ein Leben in Würde und in Sicherheit zu kämpfen. In dieser Woche wird das Jubiläum der Aktion auf dem Oranienplatz gefeiert – und an die weiterhin aktuellen Forderungen der Geflüchtetenbewegung erinnert.

Die Aktivist*innen erhalten anlässlich des Jubiläums höchst prominente Unterstützung von der amerikanischen Black-Power-Ikone Angela Davis, auch deshalb die große Resonanz an diesem Abend. Die heute 78-Jährige – einst eines der prominentesten Führungsmitglieder der Kommunistischen Partei der USA und nicht zuletzt in der DDR ein gefeierter Politstar – steigt auf die Bühne und spricht über Antirassismus, Feminismus und die Kämpfe der Geflüchteten- und Migrant*innen-Bewegung. »Diese Bewegung repräsentiert die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Sie führt den Kampf für ein besseres Leben für alle Lebewesen auf dem Planeten«, ruft Davis. Die Menschenmenge jubelt.

Die US-Bürgerrechtsaktivistin und Autorin ist auf Einladung des Vereins International Women* Space (IWS) nach Kreuzberg gekommen, der das Jubiläum der Oranienplatz-Besetzung mitorganisiert hat. Die antirassistische, feministische und antikoloniale Initiative hat sich aus der Geflüchtetenbewegung auf dem erst 2014 geräumten Oranienplatz und in der ebenfalls jahrelang besetzten Kreuzberger Gerhart-Hauptmann-Schule gebildet. Davis zeigt sich in ihrer Rede sichtlich beeindruckt von der Arbeit der Aktivist*innen und hebt hervor, dass »die Migrant*innen- und Geflüchtetenbewegung in Deutschland eine feministische, intersektionale, antirassistische und antikapitalistische Führung« habe.

»Angela Davis ist hier, um eine Nachricht zu vermitteln: Wir sind die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Marginalisierte Menschen auf der ganzen Welt, Geflüchtete, weinen. Ihre Tränen fließen wie ein Wasserfall. Deshalb sind wir heute hier«, sagt Napuli Langa, eine Mitbegründerin des IWS.

Langa erzählt, wie 2012 der Suizid eines Geflüchteten in Süddeutschland die Protestbewegung ausgelöst hat, die schließlich nach Berlin marschierte, um dort für ihre Sache einzutreten. Sie selbst wurde später zum Gesicht der Oranienplatz-Besetzung, als sie 2014, nachdem alle anderen Geflüchteten das Camp auf dem Platz bereits geräumt hatten, auf einen Baum kletterte und ankündigte, so lange dort oben zu bleiben, bis die damalige Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) kommen würde – oder zu sterben.

Die Forderungen der Geflüchtetenbewegung bleiben aktuell, und die Aktivist*innen kämpfen weiterhin dafür: Abschaffung der Sammelunterkünfte, Beendigung der Abschiebungen, Bewegungsfreiheit und Beseitigung der Residenzpflicht, Recht auf Bildung und Arbeit, gleiche Rechte für alle. »Unsere Besetzungen sind zwar geräumt worden, aber die Bewegung ist weiterhin da«, sagt Jennifer Kamau vom IWS.

Die Aktivist*innen hätten seit Beginn der Bewegung eine Infrastruktur wie das »We are born free«-Radio und Projekte wie den IWS aufgebaut. Die Organisierung aus der Zeit der Besetzungen werde so weitergeführt. »Die Bewegung ist nicht weggegangen, wir sind immer noch Teil davon«, sagt Kamau. Auch weitere Projekte wie »BIPoC Ukraine« für aus dem Kriegsland geflüchtete Nichtweiße entstünden kontinuierlich.

Bürgerrechtsaktivistin Angela Davis war schon 2015 in Kreuzberg, um die Bewegung vor Ort zu besuchen. »Ich habe damals von den Kämpfen gelernt und war sehr inspiriert von der Bewegung«, sagt sie. Davis betont die globale Dimension der Migrant*innen- und Geflüchtetenbewegung: »Rassismus ist global und kommt von Kolonialismus und Sklaverei. Wir erleben immer noch die Auswirkungen davon.« Gerade europäische Länder neigten dazu, das Problem des Rassismus nicht im eigenen Land zu suchen, obwohl zum Beispiel auch Deutschland eine Rolle im Kolonialismus gespielt habe. »Es ist unsere Verantwortung, egal wo wir sind, diese Strukturen zu bekämpfen«, sagt Davis. Dazu gehöre auch das rassistisch-kapitalistische System.

IWS-Aktivistin Napuli Langa weist besonders auf die Verantwortung der europäischen Wähler*innen hin. »Hört euch eure Regierung zu? Ihr wählt die Menschen, ihr müsst den Druck aufbauen und euch für das Richtige einsetzen«, sagt sie. Denn wenn die wählenden Menschen einer Regierung Macht gäben, die diese gegen marginalisierte geflüchtete Menschen auf der ganzen Welt einsetzt, dann seien sie Teil des unterdrückenden Systems. Das Oranienplatz-Jubiläum könne ein neuer Anfangspunkt sein, um zusammen zu kämpfen. »Angela Davis ist einen weiten Weg gekommen, in Solidarität mit uns, und es ist nicht das erste Mal, dass sie hier ist. Was macht ihr? Ihr habt Privilegien, ihr habt Macht«, ruft Langa.

Unter dem Titel »Baustelle Migration« ist auf der südwestlichen Hälfte des Oranienplatzes einiges aufgebaut. Die Kombination aus Bühne und großen Baucontainern, mit Transparenten behängt, die groß die Forderungen der Geflüchtetenbewegung verkünden, wird noch bis zum Sonntag stehen. Drum herum gibt es Infostände, Sitzgelegenheiten und eine Fotoausstellung zur Geschichte der Bewegung und zur Besetzung des Platzes.

Am Donnerstagabend reicht der eigentlich gar nicht so kleine Oranienplatz nicht aus für die vielen Menschen, die Angela Davis hören wollen. Die Oranienstraße wird gesperrt, Besucher*innen haben sich auch auf den anliegenden Rasenflächen verteilt. Bevor Davis mit ihrer Rede beginnt, ruft die versammelte Menge Parolen, darunter: »We are here, and we will fight. Freedom of movement is everybody’s right«, zu Deutsch: Wir sind hier, und wir werden kämpfen. Bewegungsfreiheit ist das Recht aller.

»Deutschland hat koloniale Amnesie«, sagt Davis auf der Bühne. Auch in Deutschland gebe es gesellschaftlich stark verankerten Rassismus: Nicht weiße Menschen würden so behandelt, als gehörten sie nicht hierher, selbst wenn sie hier geboren seien. Rassismus als weltweites System sei kein individueller Charakterzug, ebenso wie Weißsein keine persönliche Beschreibung sei, sondern eine kolonialistische Struktur. »Lösungen, die Diversität und Inklusion hervorheben, werden nicht funktionieren. Wir brauchen eine radikale Transformation«, fordert Davis.

Die Krisen an den Staatsgrenzen, für die Geflüchtete und Migrant*innen verantwortlich gemacht werden, seien in Wirklichkeit ausgelöst durch Kapitalismus und Klimakrise, so die Antikapitalistin. Und es sei bemerkenswert, wie weltweit in Auflehnung gegen rassistische, kapitalistische und patriarchale Unterdrückung gerade Frauen an der Spitze der Kämpfe stünden.

»Frauen führen weltweit radikale Protestbewegungen an, zum Beispiel gerade im Iran und in Afghanistan. Danke an die Genossinnen!«, ruft David aus. Um zum Schluss ihrer Rede noch einmal auf den Anlass ihres Besuchs zu sprechen zu kommen: »Hier sind wir auf dem Oranienplatz, wo vor zehn Jahren die Geflüchteten- und Migrant*innenbewegung aufgestanden ist und gesagt hat: Nein, wir werden nicht kapitulieren! Wir werden Hoffnung generieren für uns selbst, für den Planeten und für die Zukunft!«

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