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»Wir müssen uns einmischen«
Wellthon Rafael Aguiar Leal lebt im brasilianischen Amazonasgebiet und setzt sich für die Rechte Indigener ein
Was bedeutet es für dich, heute in Brasilien indigen zu sein?
Wellthon Rafael Aguiar Leal lebt in Boa
Vista, der Hauptstadt des Bundesstaates
Roraima im Norden von Brasilien. Der
32-Jährige gehört zum Volk der Tabajara
Tukan und ist Aktivist für indigene Rechte.
In der ersten Runde der Präsidentschaftswahl in der vergangenen Woche stimmte die große Mehrheit im Bundesstaat für den amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro.
Ich denke, dass es ein neuer Prozess in der brasilianischen Demokratie ist, sich als indigen anzuerkennen. Insbesondere in der Region, aus der ich stamme, galt es bis Ende des letzten Jahrhunderts als verwerflich, unsere traditionelle Sprache zu sprechen oder unsere Religion zu prakktizieren. Und im Bundesstaat Pernambuco wurden noch in den 1980er Jahren Menschen ermordet, weil sie traditionelle Sprachen gesprochen hatten. Ich sehe die Rückeroberung unserer Identität als einen aktuellen Rettungsprozess. Aber der ist nicht einfach, auch weil es politisch aktuell nicht gerade ruhig zugeht.
Wie kam es für dich dazu, dass du deine indigene Identität anerkannt hast?
Als Jugendlicher habe ich immer gesagt, dass ich weiß, dass ich indigenes Blut habe. Aber indigene Identität war trotzdem nichts, was ich für mich in Anspruch genommen habe. Als ich studiert habe, wurden an der Uni dann in der Anthropologie nur Menschen als indigen eingestuft, die in einer indigenen Gemeinschaft bei ihrem Volk geboren worden waren. Diejenigen, die wie ich in der Stadt geboren wurden, galten nicht als indigen. Damit starb für mich erst mal meine indigene Identität. Ich dachte, weil ich nicht in einer indigenen Gemeinschaft geboren wurde, hatte ich kein Anrecht darauf, mich so zu nennen.
Wie ging es dann weiter?
Als ich 25 Jahre alt war, nahm ich an einem spirituellen, traditionellen Ritual teil. Damals sagte der Pajé (spiritueller Führer, Anm. d. Red.) zu mir: Ich weiß, dass du denkst, du hättest kein Recht, dich indigen zu nennen. Aber es braucht keinen Anthropologen, der dir sagt, wer du bist. Ich sage dir, dass du indigen bist. Was willst du mehr? Das hat mir geholfen.
Und wie ist es jetzt, als Indigener in einem Staat zu leben, in dem nach aktuellen Umfragen mehr als die Hälfte der Bevölkerung für Bolsonaro stimmt?
Indigener in Roraima zu sein bedeutet aktuell zu leiden. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass wir Entwicklung und Fortschritt verhindern wollen und eine veraltete, primitive und bettelarme Lebensweise haben. Wir werden oft grob angegangen, Menschen wollen uns nicht in ihrer Nähe haben, sie sagen, wir seien Tiere, und behandeln uns auch so. Dieser Hass gegenüber uns hier hat stark zugenommen, besonders nachdem Bolsonaro gewählt worden war.
Hast du dafür ein Beispiel?
Nehmen wir den berühmten Anführer der Yanomami (größte indigene Volksgruppe im Amazonasgebiet, Anm. d. Red.), Davi Kopenawa. Er wird in der ganzen Welt respektiert. Doch wenn Davi Kopenawa hier irgendwohin geht, wird er beleidigt. Die Weißen sagen, dass er ein Dieb ist, dass es eine Lüge ist, dass Indigene den Wald schützen wollen. Es wird behauptet, dass wir eigentlich reich sind. „Ah, das ist das Geld, das er aus den Minen gestohlen hat, und er will nicht, dass die Armen es bekommen«, wird dann etwa gesagt. Es gibt hier in den Debatten einige Narrative, die ganz offensichtlich Fake News sind.
Was hat das alles mit dem amtierenden Präsidenten zu tun?
Für mich ist die starke Zustimmung zu Bolsonaro das Ergebnis von zwei Dingen: dem Hass auf die indigene Bevölkerung, der durch ihn noch verstärkt wird, und einer riesigen Verbreitung von Fake News. In den vergangenen Wochen haben wir eine Zunahme an politischen Gewalttaten in Brasilien gesehen: Personen wurden bedroht, es gab sogar Morde, weil Leute sagten, welche Präsidentschaftskandidaten sie wählen werden.
Wie bist du damit umgegangen?
Eine Entscheidung war, keine Wahlaufkleber mehr aufs Auto zu kleben, damit wir nicht angefeindet werden. Ich hatte mal einen Aufkleber von Lula auf dem Wagen und wurde dann beim Mittagessen im Restaurant beschimpft. Leute kamen auf mich zu und schrien, dass Bolsonaro gewinnen würde. Der Besitzer des Restaurants nahm mich in Schutz, er hielt einen Mann davon ab, mich zu schlagen. Das war wirklich erschreckend und beängstigend.
In dieser hitzigen Stimmung mit zunehmender Gewalt – hast du schon mal daran gedacht, mit deinem Aktivismus aufzuhören?
Ich habe schon daran gedacht, aufzuhören, aber das bringt ja auch nichts. Wenn Bolsonaro die Wahlen gewinnen oder putschen würde, dann würde ich, glaube ich, doch aufhören. Aber dann würde ich auch nicht hierbleiben, weil ich weiß, dass ich eine Zielscheibe bin. Dann würde ich das Land verlassen. Ohne Zweifel, weil dann wäre ich hier nicht mehr sicher. Aktuell versuche ich mich ein bisschen zurückzuhalten, mich nicht zu sehr bloßzustellen. Die ganze Situation macht Angst. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass so etwas eines Tages in Brasilien passiert. Früher konnte man noch über Politik diskutieren – heute zieht plötzlich einer eine Waffe.
Denkst du, deine Erfahrungen sind ein Einzelfall?
Das passiert gerade im ganzen Land mit der indigenen Bewegung. Wir laden zu Events keine Menschen ein, die wir nicht kennen. Alle Veranstaltungen finden in geschütztem Rahmen statt. Öffentliche Events mit vielen Leuten sind für die indigene Bewegung fast unmöglich, weil die Gefahr irgendeiner Art von Angriff besteht.
Neben all diesen erschreckenden Nachrichten für Indigene haben wir auch etwas Positives beobachtet. Es gab dieses Jahr mehr indigene Kandidaturen, zwei Kandidatinnen wurden auch in den Kongress gewählt. Worauf führst du dieses Wachstum zurück?
Es gibt ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass wir die Macht haben, uns an Wahlen zu beteiligen. Nehmen wir beispielsweise die Yanomami. Die haben ein Gebiet, das so groß ist wie Portugal. Von 20 000 Yanomami hatten bisher nur rund 200 einen Wählerausweis (ein Dokument, das zur Wahl berechtigt, Anm. d. Red.). Oftmals machen es ihnen die Behörden auch schwer, einen zu bekommen. Die Indigenen haben also bisher nicht mitbestimmt. Oft habe ich gehört: Das ist etwas für die Weißen, da werde ich mich nicht einmischen. Aber jetzt wurde klar – wir müssen uns einmischen, sonst verlieren wir unser Territorium. Das alles hat dazu geführt, dass viele von uns Parteien beigetreten sind, beispielsweise, um gegen die Agrarindustrie zu kämpfen. Indigene in der Politik sind hauptsächlich ein Akt des Widerstands.
Was sind deiner Meinung nach die größten Herausforderungen für indigene Kandidaten?
Hier in Roraima ist die größte Herausforderung, dass die Indigenen verstehen, dass sie viel Macht haben. Dieses Stigma, dass sie als Indigene das kapitalistische Wachstum ausbremsen, steckt tief in ihnen. Erst müssen also Indigene verstehen, dass sie in Bezug auf den Fortbestand der Menschen unglaublich wichtig sind. Amazonien gibt es nur wegen ihnen noch – und davon hängen alle ab. Ihre Lebensweise ist die beste, die wir haben können. Aktuell steuern wir mit der Klimakrise auf das Ende der Menschheit zu. Eine andere Herausforderung ist, dass Politik wirklich herausfordernd ist. Die Parteibürokratie, die Bürokratie der Regierung, die Bürokratie des modernen Rechtsstaats – das alles ist sehr komplex und unterscheidet sich sehr von der gemeinschaftlichen, traditionellen Lebensweise.
Wofür setzten sich die indigenen Kandidaten ein?
Ich denke, der erste gemeinsame Punkt ist Umweltschutz und die Erhaltung des Amazonasgebiets. Außerdem geht es auch ums Überleben und den Widerstand traditioneller Völker. Sie setzen sich dafür ein, dass es die Möglichkeit gibt, auf diese jahrtausendealten Weisen weiterzuleben. Diese Art zu leben, macht es möglich, dass die Welt weiter existiert – ohne den Amazonas und dessen Völker gibt es kein Leben auf dieser Welt.
Welche Erwartungen hast du an die Präsidentschaftswahlen?
Indigene Bewegungen in Lateinamerika sind politischen Prozessen gegenüber sehr kritisch eingestellt. Egal ob von links oder rechts. In Brasilien haben wir immer protestiert, unabhängig davon, welche Partei regiert hat. Das liegt daran, dass der indigene Kampf unsere moderne Welt und die kapitalistische Logik immer infrage stellen wird. Meine Erwartung an die neue Regierung, wenn sie dann von Lula angeführt werden sollte, ist, dass wir wieder kämpfen können, ohne ermordet zu werden. Das wäre für uns schon ein großer Fortschritt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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