Schleppende Aufarbeitung

Bundesregierungen ignorierten Unrecht der Colonia Dignidad

  • Ute Löhning
  • Lesedauer: 3 Min.

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, der turnusmäßig auch Bundesratspräsident ist, besucht in dieser Woche Chile. Hauptfokus sind die ökologische Transformation und Energiewende, der Export von Lithium und Wasserstoff. Eine 35-köpfige Wirtschaftsdelegation begleitet den Linke-Politiker. Kooperationen sollen angebahnt und Verträge unterschrieben werden. In dieser Woche bestätigte der chilenische Senat das von sozialen Bewegungen kritisierte Freihandelsabkommen TPP11. Das Trans-Pazifik-Abkommen zwischen elf Pazifikanrainerstaaten steht wegen laxer Umwelt- und Menschenrechtsstandards und der Schiedsgerichte, vor denen Unternehmen gegen staatliche Regulierungen klagen können, in der Kritik.

Ramelow will auch einen Kranz am Grab des sozialistischen Präsidenten (1970–1973) Salvador Allende niederlegen, im Museum für Erinnerung und Menschenrechte Vereinigungen von Opfern der Diktatur (1973–1990) treffen und am Freitag die frühere Colonia Dignidad besuchen. In der 1961 in Chile von Paul Schäfer und rund 300 Gefolgsleuten gegründeten sektenartigen Gemeinschaft gehörten Zwangsarbeit und sexualisierte Gewalt zum Alltag. Während der Diktatur unter Augusto Pinochet richtete der Geheimdienst DINA auf dem Gelände ein Gefangenenlager ein. Hunderte Oppositionelle wurden dort gefoltert, Dutzende ermordet. Ihre Leichen wurden in Massengräbern verscharrt, später ausgegraben, verbrannt und ihre Asche in den Fluss Perquilauquén geworfen.

Der deutschen Botschaft und mehreren Bundesregierungen waren die Verhältnisse in der Colonia Dignidad bekannt. Doch sie gaben Bewohner*innen, denen es gelang, aus dem streng abgeriegelten Gelände zu fliehen, teils keinen Schutz. Nach Anzeigen chilenischer Familien, deren Kinder in der Siedlung festgehalten und vergewaltigt wurden, floh Schäfer 1997 nach Argentinien. Er wurde 2005 verhaftet und starb 2010 im Gefängnis.

2016 räumte Frank-Walter Steinmeier, damals Außenminister, eine moralische Mitverantwortung der deutschen Regierung ein. Der Bundestag beschloss, die Bundesregierung solle die Verbrechen aufklären. Allerdings wurden alle Ermittlungsverfahren der deutschen Justiz eingestellt. In der deutschen Siedlung, die sich seit 1988 Villa Baviera (Bayerisches Dorf) nennt, betreiben heute rund 100 Personen Immobilienunternehmen, Landwirtschaft und Tourismus. Die von der deutschen und der chilenischen Regierung 2017 eingerichtete Kommission, die auch die Errichtung eines Gedenk-, Dokumentations- und Lernortes zur Colonia Dignidad vorantreiben soll, tagte zuletzt im Februar 2022. Die Verhandlungen verlaufen schleppend.

Chilenen, die als Kinder in der Siedlung festgehalten und vergewaltigt wurden, haben seit 2013 einen Anspruch auf Entschädigung von insgesamt 1,3 Millionen Euro. Eine zur Holding der heutigen Villa Baviera gehörende Immobiliengesellschaft hat am Mittwoch die ausstehenden rund 450 000 Euro an ein chilenisches Gericht gezahlt, das die Entschädigungen an elf Chilenen und ihre Familien weiterleiten wird. Eine erste Teilzahlung war im Juni erfolgt.

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