- Politik
- China und Indien
Annäherung durch Krieg
Ausgerechnet Russlands Einmarsch in die Ukraine hat zu einer Annäherung zwischen China und Indien geführt
Der Parteitag der chinesischen Kommunistischen Partei, der dieses Wochenende beginnt, wird auch in der indischen Hauptstadt mit Spannung erwartet. Denn das Verhältnis zwischen Indien und China ist seit mehr als zwei Jahren von Grenzkonflikten und Unruhen geplagt. In dieser Zeit wurde China unter anderem beschuldigt, in indisches Hoheitsgebiet einzudringen, was zu einer zunehmenden Militarisierung der Grenze zwischen beiden Ländern führte. Ihren Höhepunkt erreichten die Spannungen im Juni 2020, als Soldaten beider Länder an der Grenze zu Galwan zusammenstießen und 20 indische sowie vier chinesische Soldaten ums Leben kamen. Trotz mehrerer hochrangiger politischer und militärischer Gesprächsrunden blieb der Grenzkonflikt ungelöst – bis zum Ausbruch des Ukraine-Krieges. Denn eine der am überraschendsten Folgen des Angriffs auf die Ukraine ist, dass sowohl Indien als auch China in ihrem strategischen Schweigen gegenüber Russlands Aggressionen zu einer gewissen Harmonie gefunden haben.
So wie die Dinge zwischen Indien und China vor dem russischen Einmarsch im Februar standen, hätte sich wohl kaum jemand vorstellen können, dass ausgerechnet diese beiden Länder zusammenarbeiten würden, um Russlands Präsident Wladimir Putin zu helfen, die Sanktionen zu überstehen. Doch mittlerweile sind sie bereit, dafür auch ihre Grenzfragen anzugehen. So bezeichnete etwa Chinas Botschafter in Indien, Sun Weidong, Ende September die Situation an der Grenze als insgesamt stabil und behauptete, die beiden Länder seien von einer »Notfallreaktion zu normalisiertem Management und Kontrolle« übergegangen. Indien schlägt etwas zurückhaltendere Töne an: In seiner Antwort auf die Äußerungen des chinesischen Gesandten zum Grenzkonflikt erklärte das Außenministerium Anfang Oktober, dass einige Schritte für eine vollständige Normalisierung notwendig seien und» wir dieses Stadium sicherlich noch nicht erreicht haben«. Diese Vorsicht sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Indien durchaus an einer Verbesserung der Beziehungen gelegen ist.
Dennoch bleibt die Frage, wie zwei Länder mit einer jahrzehntelangen Geschichte militärischer Konflikte und einer zunehmenden wirtschaftlichen Rivalität in einem Krieg zusammenfinden können, der weitgehend als Auseinandersetzung zwischen dem von den USA geführten Westen und Russland angesehen wird? Obgleich Indien sich in den letzten Jahrzehnten militärisch als auch wirtschaftlich immer mehr dem Westen angenähert hat, verlief diese Bewegung nie ohne Widersprüche. So musste das Land bereits 2019 auf Druck der Regierung unter Donald Trump die Einfuhr von iranischem Öl stoppen. Und auch im Verteidigungsbereich zogen die USA im vergangenen Jahr angesichts des Kaufs des S-400-Raketenabwehrsystems aus Russland die Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Indien in Erwägung.
Solche Einschränkungen des außenpolitischen Spielraums sind beim indischen Kapital – das seine eigenen globalen Ambitionen verfolgen will – nicht gerade gut angekommen. Russlands Krieg mit dem Westen wird in Indien daher auch verstanden als ein mögliches Ende der unipolaren Welt unter der globalen Hegemonie der Vereinigten Staaten. Für die Zukunft könnte das bedeuten, dass das Land in einer künftigen multipolaren Weltordnung seine Position als wichtige »Dritte-Welt-Macht« nutzen könnte, um die verschiedenen Blöcke gegeneinander auszuspielen.
China wiederum hofft, in dem Versuch, einen nicht-westlichen geopolitischen Block zu stärken, den Schwellen- und Entwicklungsländern zu zeigen, dass es eine verantwortungsbewusste Macht ist. Die Regierung in Peking will auch zeigen, dass sie im Gegensatz zu den USA sogar dazu in der Lage ist, mit einem traditionell antagonistischen strategischen Konkurrenten wie Indien effektiv zusammenzuarbeiten. In dieser Hinsicht könnte der Parteitag der KP Chinas kommende Woche neue Signale senden.
Bei dem Versuch Indien und Chinas, einen nicht-westlichen Block zu stärken, sehen die beiden Staaten sich jedoch konfrontiert mit einer langen Geschichte voller eigener Konflikte. Dessen Wurzeln lassen sich bis ins Jahr 1947 zurückverfolgen. Suniti Kumar Ghosh erklärte in seinem Buch »The Himalayan Adventure: India-China War of 1962«, wie Indien von dem Moment an, als es seine Unabhängigkeit erlangte, eine ehrgeizige Expansion und die politische und wirtschaftliche Vorherrschaft im Indischen Ozean anstrebte. Er betont, dass der indische Freiheitskampf trotz seiner Vielfältigkeit letzten Endes von der nationalen Bourgeoisie dominiert war. Das hatte zur Folge, dass im Zuge der Unabhängigkeit des Landes vom britischen Empire auch die Staatsmacht in dessen Hand fiel. Beide Faktoren machten Indien zu einem natürlichen Verbündeten der anglo-amerikanischen Mächte, die auf der Suche nach regionalen Verbündeten in der Region waren, um die westliche Expansion des Kommunismus in China zu vereiteln, der die Region Tibet unter seine Kontrolle bringen wollte.
Indien spielte dabei seine willige Rolle, indem es ständig Grenzstreitigkeiten mit China schürte und friedliche Verhandlungen ablehnte. Die Spannungen zwischen den beiden Ländern entluden sich schließlich im Krieg von 1962 und führten zu einer demütigenden Niederlage Indiens. Obwohl China einseitig beschloss, sich aus den Gebieten zurückzuziehen, in die es vorgedrungen war, und versuchte, Indien wieder an den Verhandlungstisch zu bringen, herrschen seither Spannungen und tiefes Misstrauen zwischen den beiden Ländern, die auch weiterhin eine Herausforderung darstellen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.