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Nein, das stimmt so nicht

Mit »Treue« gelingt Hernan Diaz das perfekte Verwirrspiel – und ein literarisches Großwerk über den Reichtum in den USA

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 6 Min.

Dieses Buch ist ein einziges Täuschungsmanöver. Nichts ist so, wie es scheint. Sogar der eigene Verlag hat bei diesem Verwirrspiel, das Hernan Diaz in seinem Roman »Treue« veranstaltet, den Überblick verloren. In der Inhaltsangabe auf der Umschlagsrückseite vermischt er den realen Namen des Hauptakteurs mit dem fiktiven Namen der Hauptakteurin.

Aber was heißt eigentlich »real« und was »fiktiv«? Und sind die Hauptakteure wirklich die Hauptakteure? Oder sind sie nur die Platzhalter für etwas viele Größeres, das sich beispielsweise »Amerika« nennt? Kürzlich bekannte Jonathan Franzen in seiner Rede bei der Verleihung des Thomas-Mann-Preises in Lübeck, er habe als junger Mensch den »großen amerikanischen Roman« schreiben wollen, »denn das ist es, wovon jeder ehrgeizige junge amerikanische Romanautor träumt«.

Erst recht jene, die sich diesem Amerika von außen nähern. Die es fasziniert betrachten, weil es die Heimat der Heimatlosen ist. Wie Hernan Diaz. Der Sohn argentinischer Linker, die das Land nach dem Militärputsch 1976 verließen, lebte vom zweiten bis zum neunten Lebensjahr in Stockholm. Schwedisch wurde seine Umgangssprache. Als er mit seinen Eltern nach Argentinien zurückkehrte, wurde er dort nicht mehr heimisch. »Irgendwann entschied ich mich, dass ich in der englischen Welt leben wollte.« Als junger Erwachsener ging er für einige Jahre nach London, ehe er mit Mitte zwanzig dauerhaft nach New York zog, in den Schmelztiegel Brooklyn, dorthin, wo schon Arthur Miller, Truman Capote und Norman Mailer Inspiration für ihre Bücher fanden.

Doch wer den großen amerikanischen Roman schreiben will, muss sich zunächst einmal fragen, was das Amerika eigentlich ausmacht. Hernan Diaz ist an der Wall Street fündig geworden. Der erste Teil von »Treue« heißt »Verpflichtungen«. Darin wird der Aufstieg eines Finanzmoguls beschrieben, der unter anderem den New Yorker Börsencrash 1929 vorausahnt und daraus Kapital schlägt. Darüber hinaus erzählt er die Geschichte von dessen Ehefrau, die sich als Mäzenatin profiliert. Nein, das stimmt so nicht. Denn glaubt man dem Inhaltsverzeichnis, hat nicht Hernan Diaz, sondern ein gewisser Harold Vanner »Verpflichtungen« verfasst.

Danach heißt es umdenken. Die Hauptfiguren haben im zweiten Teil von »Treue« andere Namen. Aus Benjamin Rusk wird Andrew Bevel und Helen Brevoort verwandelt sich in Mildred Howland. Auch das Genre ändert sich: War der erste Teil als »Roman« deklariert, handelt es sich nun um eine Selbstbiografie eben jenes Andrew Bevel, die den Titel »Mein Leben« trägt. So weit, so überraschend.

Als Autorin des dritten Teils »Erinnerte Memoiren« wird eine gewisse Ida Partenza angegeben, die auf jene Zeit zurückblickt, in der sie als Auftragsschreiberin »Mein Leben« verfasste. Und um die Verwirrung komplett zu machen, kommt im vierten Teil namens »Vereinbarungen« Mildred Bevel selbst zu Wort. Zur Erinnerung: Das ist die Frau, die im ersten Teil noch Helen Brevoort hieß.

Es ist eine clevere Konstruktion, die Hernan Diaz hier aufgebaut hat. Denn jeder neue Teil stellt den vorherigen infrage. Wie viel Wahrheit steckt in »Verpflichtungen«, dem vermeintlichen »Roman«? Wie aufrichtig ist die angebliche Autobiografie »Mein Leben«? Was weiß die Ghostwriterin über ihren Auftraggeber und was verschweigt sie? Und was vermag dessen Ehefrau zur Wahrheit beizutragen? Nein, dies ist kein Puzzle, das sich peu à peu zusammensetzt. Eher handelt es sich um ein Bauwerk, das im Laufe seiner Geschichte so oft verändert, teilabgerissen und umgebaut wurde, dass der Ursprungsbau nur noch in Fragmenten erkennbar ist. Das ist einer der Gründe, warum »Treue« fasziniert: weil es einen auf so intelligente Weise hinters Licht führt. In Zeiten von »Fake News« erinnert Hernan Diaz daran, dass das geschriebene Wort schon immer mit Vorsicht zu genießen war (bereits im Mittelalter wurden Urkunden gefälscht). Unweigerlich stellt man sich als Leser die Frage: Wer hat ein Interesse daran, dass sich welche Art von Informationen verbreiten?

Zugleich ist es die Story selbst, die einen in den Bann zieht. Wir Deutschen sind bis heute eine Bausparnation. Als Manfred Krug 1996 in Werbespots verkündete: »Wenn die Telekom jetzt an die Börse geht, geh ich mit«, kam dies einem Kulturschock gleich. Und noch mehr geschockt waren jene, die mitgegangen waren und erleben mussten, wie ihre Telekom-Aktien in den Keller rauschten. So fand die Börsenbegeisterung ein abruptes Ende. In Amerika hingegen legten viele schon vor hundert Jahren ihr Geld in Aktien an. Dort ist es normal, dass die Altersvorsorge in den Händen eines Pensionsfonds liegt, der an den Börsen der Welt kräftig mitmischt. Anders als hierzulande bricht auch keine Panik aus, wenn die Kurse mal absacken. Man sieht dies als Kaufgelegenheit – auf zur Schnäppchenjagd an der Wall Street!

Entsprechend ist auch die Wahrnehmung des Börsenmaklers eine andere. Sie ist nicht von Misstrauen und Dämonisierung geprägt, sondern von Neutralität – ist halt auch nur ein Job. Man merkt Hernan Diaz (oder zumindest seinem Alter Ego, dem fiktiven Romanautor Harold Vanner) das Bemühen an, das Leben eines Börsenmaklers so ruhig, sachlich und unprätentiös wie möglich darzustellen. Sein Benjamin Rusk ist kein Gordon Gekko (Michael Douglas), der in »Wall Street« die Gier feiert, und schon gar nicht »The Wolf of Wall Street« (Leonardo DiCaprio), der sich Drogen und Ausschweifungen hingibt. Das Bild, das er im ersten Teil des Buches vom Hauptakteur zeichnet, ist das eines arbeitsamen, selbstgenügsamen Menschen, der in seinem Beruf aufgeht. Wie ihn die Lübecker Kaufleute in Thomas Manns »Buddenbrooks« vorstellen, nur dass es hier um New Yorker Wertpapierhändler geht.

Der zweite Teil, die vermeintliche Autobiografie, geht einen entschlossenen Schritt weiter. Hierin lässt Diaz den Finanzmogul Andrew Bevel das Hohelied auf den Kapitalismus singen (»Der Markt hat immer recht«). Die Passagen, in denen Bevel über Wirtschaftspolitik referiert, haben den Charakter eines neoliberalen Sachbuchs – eines verdammt gut geschriebenen Sachbuchs. Selten wurden die »Ereignisse, die zum Debakel von 1929 führten«, so verständlich erklärt. Das alles ist natürlich komplett einseitig. Der vorsätzlich herbeigeführte Börsencrash war für Bevel nur der »Versuch, als besorgter Bürger, den Markt zu korrigieren und zu reinigen. Und wie meine Vorväter bewies ich, dass verantwortungsvoll erhandelter Gewinn eins mit dem Wohle der Öffentlichkeit ist.« Das ist angesichts der folgenden Weltwirtschaftskrise, die in Faschismus und Weltkrieg mündete, blanker Hohn. Und doch ertappt man sich bei dem Gedanken: Warum wird der Wertpapierhandel nicht öfter so plastisch und anschaulich begreiflich gemacht?

Doch – aufgepasst! – auch das ist nur eine Finte. Die emotionale Achterbahnfahrt setzt sich im dritten Teil fort. Es ist seine eigene Ghostwriterin, die Zweifel an Andrew Bevels Persönlichkeit sät. Mit einem Mal klingen Sätze wie »Ich bin stets Bewahrer des öffentlichen Interesses geblieben, selbst wenn es so scheinen mag, als richteten sich meine Handlungen gegen dieses« seltsam hohl. Und schon wieder muss man als Leser sein Bild korrigieren. Die vermeintliche Wahrheit entpuppt sich als relativ. Was Hernan Diaz bzw. Mildred Bevel schließlich im vierten Teil preisgibt, ist schlicht sensationell und darf an dieser Stelle auf keinen Fall ausgeplaudert werden. Nur so viel: Wäre »Treue« ein Krimi, hätte Agatha Christie an der finalen Wendung ihre helle Freude gehabt. Eine derart brillante Auflösung hat man schon lang nicht mehr erlebt. Das Ende des Romans ist zugleich der Anfang von tausend Gedanken. Wann hat es das zuletzt gegeben, dass man mit anderen unbedingt über ein Buch reden wollte? Und zwar jetzt, sofort! So gelingt Hernan Diaz tatsächlich der große amerikanische Roman – man versteht danach die USA in all ihrer Widersprüchlichkeit und Schizophrenie besser.

Hernan Diaz: Treue. A. d. amerik. Engl. v. Hannes Meyer, Hanser, 416 S., geb., 27 €.

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