Den Tunesiern reicht es

Die Menschen leiden unter den steigenden Preisen und dem politischen Stillstand

  • Mirco Keilberth, Tunis
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Proteste gegen die Regierung gehen weiter in Tunesien, diesmal in der Hafenstadt Zarzis. Vor brennenden Autoreifen fordert einer der Demonstrierenden die Absetzung des Gouverneurs der Region und die Schaffung von Arbeitsplätzen. »Wir haben schon hier keine Zukunft. Aber nun ist auch der Weg nach Europa von der Korruption der Regierung betroffen«, sagt Mohamed Hadhili vor der Kamera eines Journalisten von Zarzis TV.

Die Unruhen in dem für illegale Migration berüchtigten Zarzis hatten begonnen, nachdem ein Boot mit 18 jungen Tunesiern vor der Küste gesunken war. Über eine Woche lang galt das Fischerboot als vermisst. Libysche Schmuggler hatten gegenüber Angehörigen behauptet, die Gruppe entführt zu haben und forderten Lösegeld. Umso größer war der Schock, als eine tunesische Küstenwachenpatrouille mehrere Leichen und Wrackteile des Bootes fanden. Trotz der massiven Emigrationswelle seit 2011 starben bisher nur fünf Menschen auf der Route von Südtunesien nach Lampedusa oder Sizilien.

Als dann die geborgenen Opfer auf dem lokalen Friedhof für illegale Migranten ohne Untersuchung beerdigt wurden, gingen die Bewohner wutentbrannt auf die Straße. Denn fast alle Bootsinsassen kamen aus einer bürgerlichen Nachbarschaft der 200 000-Einwohnerstadt. »Viele Familien hatten für eine bessere Zukunft der jungen Männer Geld gesammelt und protestierten mit einer Portion Selbstvorwurf und Wut über die Inkompetenz der Behörden«, so der tunesische Journalist Ashraf Chibani.

Vor allem im Süden des Landes ist die soziale Lage zum Zerreißen gespannt. Die seit dem Ukraine-Krieg massiv steigenden Lebensmittelpreise und der politische Stillstand treiben vor allem die junge Generation in die Boote. Auch in der Hauptstadt Tunis sind viele Familien mit der Organisation ihres täglichen Lebens beschäftigt. Seit zwei Wochen kommt es immer wieder zu langen Schlangen vor Tankstellen und vor den Geschäften, die sporadisch Zucker oder Milch verkaufen. In den Talkshows der großen TV-Sender erklären Wirtschaftsexperten die Versorgungsengpässe mit den leeren Kassen der Zentralbank.

Regierungsvertreter geben hingegen Spekulanten die Schuld an den leeren Regalen. »So etwas habe ich nicht einmal während der Revolution gesehen«, wundert sich Asma Khalifa, eine Studentin, beim Anblick des dürftigen Sortiments in einer Filiale der Supermarktkette Monoprix im Stadtteil Lafayette. Doch nur in dem Armenviertel Ettadhamen haben frustrierte Jugendliche es den Altersgenossen im Süden gleichgetan. Doch Bilder der vereinzelten Straßenschlachten am nördlichen Stadtrand von Tunis zeigen, dass erneute landesweite soziale Unruhen diesmal eine völlig neue Dimension hätten. Nur mit dem Einsatz scharfer Waffen verhinderte die Polizei, dass offizielle Gebäude angezündet wurden.

»Das Verhältnis von Bürgern und Staat ist an vielen Orten, vor allem im verarmten Südwesten des Landes und in Tunis, kaum noch existent«, sagt Mohamed, ein Student aus Ettadhamen. »Wir erwarten nichts mehr, keine Reformen, keine Investitionen.« Wie fast alle seiner Freunde will auch der 25-Jährige weg. Über die Lage als Illegaler in Europa ist er sich bewusst und hätte lieber einen Job bei einem IT-Start-up in Tunis. »Doch es gibt kaum gut bezahlte Jobs, und in Ettadhamen erhält auch niemand einen Kredit, um sich selbstständig zu machen.«

Während Polizeieinheiten mit Tränengas in Ettadhamen und Zarzis versuchen, die Lage unter Kontrolle zu halten, ist aus dem Präsidentenpalast nur Schweigen zu hören. Auf seiner Facebook-Seite forderte Präsident Kais Saied die Behörden auf, gegen Spekulation und Menschenhändler vorzugehen. Doch zu der schwersten Wirtschaftskrise seit der Unabhängigkeit hat sich der Juraprofessor bisher nicht zu Wort gemeldet. Am 25. Juli letzten Jahres hatte Saied das Parlament abgesetzt und die Regierung beurlaubt. Seitdem regiert er zusammen mit der von ihm persönlich ernannten Premierministerin Najla Bouden autokratisch. Die Verfassung und das Wahlgesetz für die im Dezember geplanten Parlamentswahlen stammen aus seiner Feder.

Saied will sein Lebensprojekt, wie im Präsidentschafts-Wahlkampf 2019 angekündigt, mit aller Konsequenz durchziehen: den Umbau der tunesischen Demokratie in ein basisdemokratisches Modell ohne politische Parteien. »Die Tunesier erleben in ihrem Alltag mehr Korruption und Reformstau als vor der Revolution. Tunesische Kreditkarten kann man nicht international nutzen, bei Ausreise muss ich 20 Euro Ausreisegebühr zahlen, hier darf ich keine Devisen bei mir haben«, lacht die Kommunikationsfachfrau Asma Kourda. »Wenn ich meinen Beruf wechsle, muss ich dies auf einer Polizeistation eintragen lassen. Die Restriktionen, denen wir unterliegen, erinnern an die Zeit der Sowjetunion.«

Immerhin konnte die Regierung von Najla Bouden letzte Woche mit einem Kredit über 1,9 Milliarden Dollar des Internationalen Währungsfonds den kurzfristigen Bankrott Tunesiens verhindern. »Doch wenn das Geld nicht für Reformen eingesetzt wird, fließt es nur wieder in die Taschen der Elite, die mit ihrer Politik die Jugend außer Landes treibt«, sagt Asma Kourda.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.