Toter Vogel Jugend

Das Smartphone als Konditionierungsmaschine: Der Dokfilm »Girl Gang« porträtiert eine Influencerin

Die Obsession Smartphone teilt die Protagonistin in "Girl Gang" mit vielen ihrer Altersgenossen.
Die Obsession Smartphone teilt die Protagonistin in "Girl Gang" mit vielen ihrer Altersgenossen.

Selten hat ein Film den Rezensenten trauriger zurückgelassen als dieses Dokument einer verhinderten Kindheit und Jugend. Dabei wirkt die minderjährige Ostberlinerin Leonie eigentlich gar nicht so viel anders als andere pubertierende Teens. Statt Jungs hat sie allerdings ausschließlich ihr Smartphone im Kopf, dieses ist ihre einzige Verbindung zur äußeren Welt. Diese Obsession dürfte sie mit vielen Altersgenossen teilen. Bei Leonie hat der exzessive Gebrauch des Geräts allerdings einen handfesten Hintergrund: Leo ist »Influencerin«. Sie ist nichts ohne ihre »Follower«, die ihrer Selbstinszenierung als munteres Girl von nebenan so zahlreich folgen, dass Leo es »geschafft« hat und als Werbeträgerin für verschiedenste Marken offenbar erhebliche Geldsummen umsetzt.

Leos Leben, wie es sich in den »sozialen Medien« darstellt, scheint einfach perfekt. Wer hätte nicht gern so ein Leben? Warum aber wirken all die weiblichen Fans, die Leo bei ihrem Liveauftritt in einem Shopping-Center zujubeln, wie einsame Solitäre? Zwischen jedem Mädchen und seiner Umgebung steht ein Smartphone, jegliche Kommunikation scheint nur mehr darüber möglich. Auch die steifen, gekünstelten Umarmungen und Bussis, bevor das gemeinsame Selfie gemacht wird, strahlen eine Einsamkeit aus, die so gar nicht zu dem munteren Treiben passen will.

Vielleicht liegt es daran, dass bei all dem oberflächlichen Getue stets klar ist, dass es nicht um Gemeinsamkeit, sondern darum geht, irgendetwas zu verkaufen. So gesehen, ist das Influencer-Unwesen eine perfekte Widerspiegelung des avancierten real existierenden Kapitalismus und seines Trends zur Vereinzelung des Individuums. Oder wie es Leo Fischer kürzlich in seiner Kolumne in dieser Zeitung in Bezug auf die Verfasstheit der bürgerlichen Mitte treffend beschrieb: »Solidarisches oder auch nur kollektives Handeln kommt ihnen nicht (mehr) in den Sinn, alles auch nur vage politische Denken ist völlig überformt vom eingedrillten Reflex, sämtliche Probleme durch Einkaufen zu lösen.« In der stumpfen Aufmerksamkeitsökonomie, die die sozialen Medien beherrscht, materialisiert sich diese These.

Den hochinteressanten Einblick in den Alltag eines Mädchens, das zur Influencerin wird, verdanken wir der in der Schweiz lebenden deutschen Dokumentarfilmerin Susanne Regina Meures. Aufsehen erregte sie 2016 mit »Raving Iran«, in dem sie zwei iranische Techno-DJs porträtierte, die in dem Land, wo Tanzveranstaltungen mit elektronischer Musik ebenso verboten sind wie die Veröffentlichung solcher Tonträger, einen entsprechend schweren Stand haben.

Für »Girl Gang« hat sie Leo über vier Jahre hinweg mit der Kamera begleitet. Es spricht für ihr offenkundig erheblich ausgeprägtes Einfühlungsvermögen, Leonie und ihrer Familie über einen so langen Zeitraum sehr nahegekommen zu sein. Das macht ihren Film zu einem klugen Dokument einer Generation, die nichts weniger will, als Teil einer Jugendbewegung zu sein. Es sei denn, man versteht darunter das freimütige Verteilen von Likes oder Smileys auf den diversen digitalen Plattformen.

Die titelgebende »Girl Gang« existiert lediglich noch als virtuelle Vorstellung von Gemeinsamkeit. Wie aber wird man ein Social-Media-Star? Der Film verdeutlicht, dass es durchaus harte Arbeit ist und Ehrgeiz sowie Durchhaltevermögen braucht, das Publikum Tag für Tag mit Versatzstücken des eigenen Lebens bei der Stange zu halten und ihm eine Lebensrealität zu präsentieren, die den Eindruck eines perfekten Lebens erzeugt, dem all die anderen da draußen nacheifern wollen.

Natürlich ist diese vermeintliche Realität ein Kunstprodukt, eine Scheinwelt, die als Einblick in den Alltag verkauft wird und in der wie nebenbei oder auch ganz offensichtlich diverse Produkte angepriesen werden. Authentizität ist das Zauberwort, auch wenn diese nur ein Trugbild ist.

Erschreckend ist für den Uneingeweihten, wie ungeheuer banal, öde und inhaltsleer die als Ausschnitte aus dem Alltagsleben verbrämten Werbeclips sind. Der Leser, so er über einen Instagram-Zugang verfügt, möge nur einmal den Account @leoobalys aufrufen und sich durch ein paar der Posts oder der sogenannten Insta-Storys klicken. Das also ist der Content, nach dem sich inzwischen 1,6 Millionen Follower verzehren? Wer bisher nicht zum Kulturpessimismus neigte, wird hier eines Besseren bzw. Schlechteren belehrt. Auch die feilgebotenen Produkte sind dermaßen überflüssig und sinnfrei, dass es angesichts der uns umgebenden ökologischen Mehrfachkrisen regelrecht empört, das anzusehen.

Welch ungeheure Macht dem Smartphone als Konditionierungsmaschine einer ganzen Generation Jugendlicher innewohnt, wird an der Selbstdisziplin deutlich, mit der die zu Beginn des Films gerade 13-jährige Leo ihr Ziel verfolgt, eine möglichst große Reichweite zu erzielen. Hier kommen die Eltern ins Spiel, ohne deren Zustimmung eine solche Karriere nicht möglich wäre. Bei der Zustimmung allein bleibt es nicht: Als Leos Eltern das enorme wirtschaftliche Potenzial ihrer Tochter erkennen, übernehmen sie kurzerhand selbst ihr Management. In der Folge sind sie es, die dafür sorgen, dass Leo ihre Termine einhält, pünktlich die nächste Insta-Story produziert und reibungslos funktioniert.

Der Vorwurf, sie würden ihre Tochter gnadenlos ausbeuten und vermarkten, liegt nahe, und nach Meinung des Rezensenten ist er auch berechtigt. Selbstverständlich geschehe alles zum Besten Leonies, die Tochter solle es einmal besser haben, wie die Mutter in sinnierenden Off-Monologen feststellt. Nachvollziehbar sind ihre Zukunftssorgen im Hinblick auf Leos materielle Absicherung nicht recht, denn den Eltern geht es in ihrem Haus mit Garten in einem Ostberliner Vorort ersichtlich gut. Ihr Antrieb scheint vielmehr die leider allzu menschliche Gier nach mehr, immer mehr zu sein.

Der Film wird spätestens dann zum Zeugnis einer vereitelten, unwiederbringlichen Jugend, wenn der Vater als Folge von Leos »Berühmtheit« die Abschottung beklagt, unter der seine Tochter lebe. Die größten Abstriche, die Leo machen müsse, seien ihre sozialen Kontakte: »Dass sie in die Disco geht, neue Leute kennenlernt, das kann sie nicht.« Es schmerzt, einen solchen Satz aus dem Mund eines Vaters zu hören, und es scheint ein hoher, wenn nicht zu hoher Preis für ein bisschen Ruhm in der Scheinwelt der sozialen Medien.

»Wir machen uns oft Gedanken, ob das alles hier richtig oder falsch ist«, sinniert der Vater am Ende des Films, während er auf den nagelneuen Swimmingpool im Garten blickt, und man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. Einer im Presseheft zum Film zitierten Umfrage zufolge streben 86 Prozent der befragten Teenager eine Karriere als Influencer an. Bewahren Sie Ihre Kinder davor!

»Girl Gang«: Schweiz 2022. Regie/Drehbuch: Susanne Regina Meures. 98 Min. Kinostart: 20.10.

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