- Berlin
- Opfer des Faschismus
Reisebusse auf dem Weg der Häftlinge
Kein Ende absehbar im Streit um Zufahrt zur KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen
Durch die Oranienburger Straße der Nationen können Linienbusse nur sehr langsam über das holperige Kopfsteinpflaster fahren. Die Fahrgäste werden gehörig durchgeschüttelt. Autofahrern geht es nicht anders und ebenso den Reisebussen, die Besuchergruppen zur KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen bringen. Der Zustand der Straße ist eigentlich schon lange unhaltbar und verschlimmert sich mit den Jahren immer weiter.
In den Schränken der Anwohner klirren die Tassen. Eine Nachbarin erzählt, durch die erzeugten Schwingungen habe sich ihr Wintergarten abgesenkt. „Wir können die Türen nicht mehr öffnen.» Sie zögert jedoch, dies teuer reparieren zu lassen. Wer weiß, wie lange es halten würde. Die Linienbusse bleiben wenigstens nicht lange. Doch die Reisebusse warten stundenlang auf dem Parkplatz am Schäferweg, während die Besuchergruppen die Gedenkstätte besichtigen. Dabei lassen die Busfahrer die Motoren laufen – im Sommer wegen der Klimaanlage, im Winter wegen der Heizung des Fahrzeugs. Das geht den Anwohnern auf die Nerven.
Schon jahrelang wird über eine Lösung gestritten. Die Opferverbände und die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten bestehen darauf, dass ankommende Besucher weiterhin den Weg der Häftlinge nehmen, so wie es auch in den KZ-Gedenkstätten Dachau und Auschwitz der Fall sei. Zwar erinnerten sich Überlebende nach der Befreiung vom Faschismus eher an die Schläge und das Gebrüll ihrer Bewacher, die sie einst ins Lager trieben. Es gebe aber auch Zeitzeugenberichte über die Strecke, erläutert die stellvertretende Gedenkstättenleiterin Astrid Ley. Daher wisse man, dass es verschiedene Wege ins Lager gegeben habe. Der Hauptweg sei jedoch der gewesen, dem die aktuelle Zufahrt zur Gedenkstätte folgt.
Fünf bis sechs Vorschläge, die Anwohner wenigstens von den brummenden Motoren der Reisebusse zu befreien, hat es mittlerweile gegeben. Doch es konnte keine Einigung erzielt werden. Ein bisschen Bewegung kam vor vier Jahren in die Sache, als nahezu zeitgleich Oranienburgs Bürgermeister Hans-Joachim Laesicke (SPD) und Stiftungsdirektor Günter Morsch in den Ruhestand gingen. Nachfolger des Bürgermeisters wurde sein parteiloser Sohn Alexander Laesicke. Für Morsch kam im Sommer 2018 Axel Drecoll vom Dokumentationszentrum Obersalzberg, das sich der einstigen Alpenresidenz Adolf Hitlers widmet.
Am Mittwochabend stellen Laesicke und Drecoll in der Orangerie von Schloss Oranienburg eine Kompromisslösung vor. „Es ist ein Angebot», betont Drecoll. Seine Stiftung habe keinen Vorteil von der vorgeschlagenen Veränderung. Sie wäre für ihren Teil auch zufrieden, wenn alles so bliebe, wie es ist. Für 1,5 Millionen Euro könnte die Stiftung aber einen Wendehammer hinter dem T-förmigen Gebäude am Heinrich-Grüber-Platz bauen, früher Sitz der Inspektion der Konzentrationslager. Heute sind dort ein Finanzamt und die Verwaltung der Gedenkstätten-Stiftung untergebracht.
Am Wendehammer würden die Reisebusse ihre Fahrgäste absetzen und dann zu einem Parkplatz hinter dem ehemaligen SS-Kasino fahren, wo sie warten, ohne jemanden zu stören, und wo die Leute später wieder einsteigen. Diesen Parkplatz würde die Stiftung für 3,5 Millionen Euro neu anlegen. Der brandenburgische Landesbetrieb für Liegenschaften und Bauen hat diese Variante für machbar erklärt. Abteilungsleiterin Beate Ziems beantwortet mit einem Kollegen in der Orangerie skeptische Nachfragen von Anwohnern: Ampeln an der Zufahrt würden den Verkehr regeln, der Platz würde ausreichen, dass zwei Busse einander passieren können, und auch die Feuerwehr würde im Notfall zur Brandbekämpfung durchkommen.
Doch auch am Wendehammer, in der Hans-von-Dohnanyi-Straße, gibt es Anwohner, die von Reisebussen nichts wissen wollen. Einige ihrer Häuser gehören ausgerechnet zu einer ehemaligen SS-Siedlung. Da wohnten einst mit ihren Familien Offiziere, die in der Inspektion der Konzentrationslager die unmenschliche Behandlung und Ermordnung von Häftlingen verantworteten. Es hat deshalb eine besondere Note, wenn sich Anlieger heute sogar noch von Besuchern gestört fühlen, die zu Fuß vom Bahnhof zur Gedenkstätte laufen, oder von Fremdenführern, die Touristen hinter der alten Lagermauer „lautstark» die Geschichte von Sachsenhausen erzählen. „Da muss man nicht herumschreien», beschwert sich ein Herr. Man könnte doch Kopfhörer verwenden, denkt er.
Der unterbreitete Kompromiss stößt bei den 70 in der Orangerie versammelten Personen nicht auf ungeteilte Zustimmung. Es gibt zwei Bürgerinitiativen. Die eine will die Reisebusse nicht an der Straße der Nationen haben, die andere nicht am Wendehammer. Darum wird immer wieder nach bereits geprüften und verworfenen Varianten gefragt oder eine ganz neue Lösung angeregt: die Reisenden zum Beispiel gleich direkt auf dem Heinrich-Grüber-Platz oder neben dem modernen Ergänzungsbau des Finanzamts abzusetzen. Aber dagegen hegt der Denkmalschutz Bedenken, und die Stiftung möchte nicht, dass Besucher irgendwo landen, wo von der Gedenkstätte noch nichts zu sehen ist und wo sie einen nicht klar erkennbaren Fußweg vor sich haben.
Der eine oder andere Anwohner will partout nicht begreifen, warum nicht jeder Besucher die gesamten 2,2 Kilometer vom Bahnhof bis zur Gedenkstätte laufen kann. Schließlich reicht es Dik de Boef. Der Präsident des Internationalen Sachsenhausen-Komitees hat sich fast zwei Stunden lang mit erstaunlicher Ruhe alles angehört. Nur hin und wieder stieg ihm dabei die Röte ins Gesicht. Dann kann er nicht weiter schweigen. „Solchen Widerstand wie heute gegen Busse hätte man 1933 machen sollen. Dann hätte es kein KZ gegeben», sagt der 82-Jährige. Entweder komme die vorgeschlagene Zuwegung, oder es bleibe alles, wie es ist. „Wir weichen nicht davon ab», macht der Niederländer klar. „Ich verstehe nicht, dass so viel Lärm gemacht wird um Busse. Mir sind dreimal Bomben auf den Kopf gefallen.»
Anstatt erst einmal betreten zu schweigen, wird daraufhin gemault, das sei lange her, heute seien andere Zeiten. Es gibt aber auch ein paar versöhnliche Töne. „Das Wichtigste ist doch, dass wir alle froh sein können, dass so viele Menschen die Gedenkstätte besuchen», versichert eine Frau. Eine andere erklärt bei allem Ärger über ihren beschädigten Wintergarten: „Ich möchte aber auch sagen, dass wir wollen, dass Menschen diese Stätte besuchen.» 400 000 Besucher werden es in diesem Jahr voraussichtlich sein, vor der Corona-Pandemie waren es gut doppelt so viele. Eine stichprobenartige Zählung ergab, dass gegenwärtig im Schnitt 16 bis 17 Reisebusse täglich vorfahren. Genauere Zahlen gibt es nicht, nur die Gewissheit, dass es stark vom Wochentag und von der Jahreszeit abhängt.
Eine elegante Lösung wäre, die desolate Straße der Nationen endlich zu asphaltieren. Das würde Stiftungsdirektor Drecoll der Stadt Oranienburg so oder so nahelegen, auch wenn die Reisebusse dort herausgenommen werden. Für diese Anmerkung bekommt er Beifall von den Anliegern. Mit einer ordentlichen Straße könnten die Reisebusse die Besuchergruppen weiterhin durch die Straße der Nationen fahren, sie am alten Parkplatz absetzen und selbst auf dem neuen Parkplatz warten. Nachdem das Land Brandenburg die Straßenausbaubeiträge abgeschafft hat, müssten die Anlieger nun nach seiner Einschätzung nichts für das Herrichten der Strecke bezahlen, bestätigt der Stadtverordnete Olaf Kästner (Linke).
Den Vorwurf, den Wendehammer im Eiltempo durchdrücken zu wollen, weist Stiftungsdirektor Drecoll zurück. „Wir müssen das jetzt nicht schnell durchboxen», versichert er. „Wir dachten nur, es sei im Interesse der Anwohner, dass es nicht ewig dauert.» Der Abend in der Orangerie verheißt allerdings einen noch lange währenden Konflikt mit unsicherem Ausgang.
„Was ist Ihr Vorschlag? Wenn alle nicken, sind wir fertig und können nach Hause gehen», sagt Bürgermeister Laesicke einem Anlieger, der weitschweifig Einwände gegen den Wendehammer vorbringt. Die beiden Bürgerinitiativen können sich jedoch höchstens darauf einigen, dass die Busse generell dem Wohngebiet fernbleiben sollen. In Sachsenhausen wurden die Häftlinge aber nicht fernab im Wald gequält, sondern mitten in der Stadt, unter den Augen der Bevölkerung.
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