- Politik
- Iran
Im Iran demonstrieren auch Tankwagenfahrer und Zuckerfabrikarbeiter
Arbeiter*innen fangen an, die Revolte gegen das islamische Regime zu unterstützen
Die Proteste im Iran dauern noch einen Monat nach der Ermordung von Jina Mahsa Amini in Gewahrsamhaft der Teheraner Sittenpolizei an. Zwar kommt es derzeit kaum zu großen Kundgebungen und Demonstrationen, aber die Lage verschärft sich in anderen Bereichen. Inzwischen berichten Menschenrechtsorganisationen von 215 getöteten Protestierenden, von denen 27 minderjährig sein sollen. Dabei sind die Opfer des Brands im Ewin-Gefängnis, der berüchtigten Haftanstalt im nördlichen Teheran, nicht mitgerechnet. Am Wochenende sorgten Video- und Fotoaufnahmen, bei denen das Gefängnis im Qualm verborgen war und Schüsse zu hören waren, für Besorgnis in Teheran, besonders bei Familien, deren Angehörige dort einsitzen.
Laut dem Iran Prison Atlas, einer Datenbank über politische Gefangene im Iran, der von der Menschenrechts-NGO United for Iran erstellt wird, wurden tausende, während der aktuellen Protestwelle Festgenomme ins Ewin-Gefängnis gebracht. Staatliche Medien verbreiteten widersprüchliche Meldungen zur Brandursache. Tausende eilten zum Gefängnis, um im Zweifelsfall die Insassen und ihre Familien zu unterstützen. Doch sie wurden mit Schrotflinte und Schlagstöcken konfrontiert. Fast eine Woche nach dem Brand haben weiterhin viele Familien nichts von ihren inhaftierten Geliebten gehört.
Laut Iran Prison Atlas wurden mindestens fünf politische Gefangene von den Schüssen getroffen, die während des Brands zu hören waren. Es gibt keine Angaben, wohin sie gebracht wurden. Der Justizchef der Islamischen Republik sagte am Montag, der Brand im Ewin sei ein Komplott der Feinde, erklärte aber nicht, welcher Feind welches Ziel damit erreichen wolle. Außerdem widerspricht seine Aussage vorherigen Mitteilungen anderer Staatsinstitutionen, dass eine Auseinandersetzung zwischen Häftlingen zwei nicht-politischer Abteilungen zu einem Brand im Textillager des Gefängnisses geführt habe.
Bisher spricht das Regime von acht Toten infolge einer Rauchvergiftung, nennt aber keine Namen. Menschenrechtsorganisationen gehen von einer größeren Opferzahl aus. Die widersprüchlichen Angaben zur Brandursache sowie das Ausmaß des Feuers und die Schüsse erwecken den Eindruck, dass es sich eher um einen geplanten Anschlag auf eine der wehrlosesten Gruppen der Bevölkerung, die Gefangenen, handelte. Dadurch könnte das Regime versuchen, Angst zu verbreiten, was zum Teil auch gelungen ist.
Jedoch führt die Angst nicht unbedingt zur Tatenlosigkeit oder Ergebung, sondern verwandelt sich manchmal in Wut. Das sagt auch Bahar*, die sich vorigen Samstag den Versammelten vor dem Ewin-Gefängnis angeschlossen hat. Für sie ist der Brand ein Anschlag auf Menschen, die bereits in der Hand des Staates sind, machtlos und ohne Mittel, sich zu wehren.
Dass es die Protestierenden besonders in Teheran kaum noch schaffen, sich zusammenzuschließen, da die Sicherheitskräfte sehr früh eingreifen, sobald drei, vier Menschen zusammenkommen, heißt längst nicht, dass man aufgegeben hat: Der Widerstand gehe weiter, so Bahar, zum Beispiel dadurch, dass sehr viele Frauen ohne Kopftuch in der Stadt herumlaufen. In der Öffentlichkeit seien mittlerweile diejenigen, die ihr Kopftuch auf die Schultern rutschen lassen oder gar kein Kopftuch dabei haben, die Mehrheit, hat sie beobachtet.
Mit Blick auf Demonstrationen bleibt Teheran relativ ruhig. In einer der letzten großen Demonstrationen in Teheran haben die Einwohner*innen des Armenviertels Naziabad im Süden der Stadt die Sicherheitskräfte zurückgedrängt und stundenlang die Kontrolle über den Stadtteil übernommen. Das verstehen die Beobachter*innen als Zeichen der Solidarität der Arbeiterschicht mit dem Aufstand. Anhand der Streiks in Fabriken lässt sich das bestätigen. Die Freie Gewerkschaft iranischer Arbeiter*innen berichtete am Dienstag, dass die Arbeiter*innen der größten Zuckerfabrik des Landes einen Streik angefangen haben. Am selben Tag sind Tankwagenfahrer, die für die Raffinerien in der südlichen Provinz Khuzestan arbeiten, in den Streik getreten. Auch aus anderen Öl- und Petrochemie-Einrichtungen gibt es Berichte über kleine Streiks. Sollten sich solche Aktionen ausbreiten und mit den Straßenprotesten verknüpfen, könnten sie eine neue Krise provozieren, die der Staat nicht allein mit Gewalt überwinden kann.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.