Trotz allem geblieben

Eine Ausstellung erzählt die widerständigen Geschichten von Migranten, die aus deutschen Kolonialgebieten nach Berlin kamen

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 6 Min.
Ejanda Egiomue und Magdalene Garber bei einem Spaziergang in Berlin um 1939 – ein seltenes Zeugnis Schwarzer Lebensrealität im Nazideutschland
Ejanda Egiomue und Magdalene Garber bei einem Spaziergang in Berlin um 1939 – ein seltenes Zeugnis Schwarzer Lebensrealität im Nazideutschland

Magdalene Garber liegt im Strandstuhl und sonnt sich, die Hände hinterm Kopf verschränkt und die Augen geschlossen, so als könnte sie nichts in der Welt aus der Ruhe bringen. Ein Freizeitschnappschuss, aufgenommen an einem Sommertag am Wannsee. Ein gewöhnliches Foto, könnte man meinen. Doch Garber ist eine Schwarze Frau – und das Bild stammt aus dem Jahr 1939, im Hintergrund ist eine Hakenkreuz-Fahne zu erkennen. In einer Zeit, in der das NS-Regime »nichtarische« Menschen aus der Öffentlichkeit verbannt, sie verfolgt und ermordet, traut sich Garber mit einer weißen Freundin ins Strandbad.

Es sind diese Geschichten des Lebens und Überlebens gegen alle Widerstände, von denen die Ausstellung »Trotz allem: Migration in die Kolonialmetropole Berlin« im FHXB Friedrichshain-Kreuzberg-Museum erzählt. Am Freitag eröffnet, zeigt das Gemeinschaftsprojekt des Bezirksmuseums und des Vereins Berlin Dekolonial bis zum 30. April kommenden Jahres eine aufwendige Spurensuche.

Ein Jahr lang hat ein Team aus Wissenschaftler*innen und Rechercheur*innen an dem Thema gearbeitet, Quellen zusammengetragen, Archive durchforstet und Nachfahren kontaktiert, berichtet Museumsleiterin Natalie Bayer. Als »Grundlagenarbeit« beschreibt sie den Prozess. Denn die Fragestellung, wie Migration aus kolonialisierten Ländern nach Berlin aussah und welche persönlichen Schicksale, politischen Kämpfe und Verbindungen bis in die Gegenwart daraus entstanden, »die ist so noch nie aufgearbeitet worden«.

Dementsprechend voll ist der kleine Raum in der zweiten Etage des Museums an der Adalbertstraße in Kreuzberg. Auf den Infotafeln finden sich Fotografien, Ausschnitte offizieller Dokumente, historische Zeitungsartikel und erklärende Begleittexte. Sie zeigen die vielfältigen Wege, die Menschen aus den von 1884 bis zum Ersten Weltkrieg, offiziell sogar bis 1919 bestehenden deutschen Kolonialgebieten wie Kamerun oder Namibia, aber auch vor und nach der deutschen Kolonialzeit vom Globalen Süden nach Deutschland führten. Ein wichtiger Punkt: Im Gegensatz zur Zwangsmigration im 17. oder 18. Jahrhundert, in deren Zuge beispielsweise junge afrikanische Männer als Diener für adelige Familien verschleppt wurden, kamen viele Kolonialmigrant*innen ab Ende des 19. Jahrhunderts auf selbstbestimmte Weise. »Sie hatten ein Eigeninteresse, die Kolonialmacht kennenzulernen«, sagt Christian Kopp vom Verein Berlin Postkolonial.

Vor allem junge Männer aus höheren sozialen Schichten kamen auf ihrem Ausbildungsweg nach Berlin. So stellte das Auswärtige Amt eine Zeit lang Einreisegenehmigungen aus, um die in Deutschland ausgebildeten Fachleute danach für den Ausbau der kolonialen Infrastruktur zurück in die sogenannten Schutzgebiete zu schicken. Alfred Bell aus Kamerun, Neffe von König Ndumbe Lobe Bell, durchlief etwa am Polytechnikum Charlottenburg eine Ingenieursausbildung, bevor er 1890 nach Duala zurückkehrte.

Nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft erreichten vor allem Studierende aus China und Indien die Weimarer Republik. Eine weitere Möglichkeit stellte die Arbeit für koloniale Einrichtungen dar: Das Berliner Seminar für Orientalische Sprache lud Sprachlehrer ein, um »exotische« Sprachen wie Suaheli zu erforschen.

An einer Stellwand hängen drei kolorierte Fotos. Sie zeigen Anton M’bonga Egiomue, Josef Bohinge Boholle und Joseph Amemenion Garber. Die drei jungen Männer erreichen Berlin im Zuge der Deutschen Kolonialausstellung, die 1896 fast ein halbes Jahr in Treptow zu besichtigen war. »Es war nie vorgesehen, dass sie bleiben«, betont Bayer. Doch diese drei und weitere 17 Männer bauen sich trotz aller Hindernisse ein Leben in Berlin auf. Der Togolese Joseph Garber erlernt den Beruf des Schneiders, heiratet eine weiße Frau. Sie wohnen mit ihren vier Kindern an der Sonnenallee.

Auch seine beiden Freunde Egiomue und Boholle machen eine Ausbildung, heiraten, gründen eine Familie – eine beeindruckende Bildersammlung gibt Einblick in die Lebensrealität der drei Familien. Zwei kleine Schwarze Jungen in Matrosenanzügen, wie es sich für die Zeit gehört, Hochzeitsfotos, die schon erwachsenen Töchter von Garber und Egiomue bei einem Spaziergang durch Berlin: Solche Bilder führen vor Augen, wie selten die Existenz nichtweißer Menschen bisher historisch abgebildet wurde. »Wenn man sich fragt, woher wir diese vielen Fotos haben: Die hatten wir am Anfang auch nicht«, erzählt Christian Kopp. »Aber die Familien haben ihre Fotoalben für uns geöffnet.«

Was die Fotos nicht zeigen, ist die durchgängig prekäre Existenz der Familien. Garbers und Egiomues sogenannter Schutzgebietsstatus wird nie zur deutschen Staatsbürgerschaft umgewandelt, stattdessen »verlieren« ihre Frauen mit der Heirat ihre »deutsche Nationalität«. »Solche Ehen waren eigentlich nicht vorgesehen und wären im Kolonialland nicht möglich gewesen«, sagt Museumsleiterin Bayer. In Deutschland werden sie zu der Zeit zumindest geduldet. Auch ihre Kinder gelten als nichtdeutsch – und mit dem Ende der Kolonialherrschaft landen die Familien in der Staatenlosigkeit. Nur die Boholles leben bis zu den Nürnberger Gesetzen 1935 mit deutschem Pass. »Beim Thema Staatsbürgerschaft waren die Regelungen extrem willkürlich«, sagt Bayer.

Im Gegensatz zur institutionellen Benachteiligung gibt es kaum Quellen, die von Alltagsrassimus erzählen. Dafür weisen Stellungnahmen des Afrikanischen Hilfsvereins – des ersten gesamtdeutschen Vereins zur Interessenvertretung Schwarzer Menschen – gegen rassistische Darstellungen wie die »Schwarze Schmach-Kampagne« darauf hin, dass die Betroffenen Grund hatten, sich gegen die Hetze zu wehren. »Ich gehe davon aus, dass sie das gemacht haben, weil es einen Effekt auf ihren Alltag hatte«, so Bayer.

Zu Beginn der 30er Jahre verlieren die Familienmitglieder ihre Arbeit. »Nicht wegen neuer Gesetze, sondern weil es Beschwerden aus der Bevölkerung gab«, verweist Bayer auf die um sich greifende Nazi-Ideologie. »Trotz allem sind einige geblieben und haben sich Nischen gesucht.«

Eine dieser Nischen wird die Unterhaltungsindustrie. So initiiert der deutsch-togolesische Pianist Kwassi Bruce die »Deutsche Afrika-Schau«, die von 1936 bis 1940 durch Nazideutschland tourt und für die Rückgewinnung der Kolonien wirbt. Auch die Garbers treten dort als Artist*innen auf. Andere rassifizierte Menschen finden in den Filmstudios Babelsberg eine Art Schutzzone: Mit ihren Komparsen-Rollen als »Exoten« können sie sich immerhin ihre Existenz sichern.

Die Garbers überleben. Magdalene Garber, die Frau auf dem Strandbad-Foto, heiratet nach Kriegsende einen afroamerikanischen Soldaten und wandert in die USA aus, ihre Geschwister führt es in andere Teile der Welt. Auch wenn ein Großteil der Schwarzen Community Deutschland verlässt, bleiben Verbindungen zu heutigen Kämpfen. Die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland wird etwa in den 80er Jahren von zwei Urenkelinnen von Kolonialmigrant*innen mitgegründet. »Dass man heute über Rassismus sprechen kann, hat mit den Nachfahren aus der Kolonialmigration zu tun«, so Bayer.

Die Ausstellung macht aus den Kolonialmigrant*innen keine wehrlosen Opfer, sondern betont ihren kontinuierlichen Kampf um Selbstbestimmung. »Es gab Widerständigkeiten, sie sind nur nicht Teil unseres kollektiven Gedächtnisses«, sagt Bayer und erinnert an Petitionen für die Staatsbürgerschaft, an Organisationen wie die von Joseph Ekwe Bilé initiierte Liga gegen den Imperialismus oder auch den für sich genommen revolutionären Akt, trotz allem zu bleiben.

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