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167 Stufen zum Glück
Nach fünf Jahren Renovierung des Blauen Turms von Bad Wimpfen zog die Türmerin wieder ein
Lange musste Blanca Knodel warten. Eigentlich sollte die Sanierung des Blauen Turmes in Bad Wimpfen nur zwei Jahre dauern, doch wie das mit alten Buden so ist: Das mehr als 800 Jahre alte Gemäuer zeigte Zähne. Fünf Jahre lang war Bad Wimpfens größter Schatz in ein korsettähnliches Gerüst gehüllt, brachte Architekten und Statiker an den Rand des Wahnsinns. Da hieß es warten für Deutschlands einzige Türmerin, die 1996 eine großzügig geschnittene Wohnung gegen das schnuckelige, 55 Quadratmeter große Turmstübchen mit spektakulärer Aussicht getauscht hat. 167 Treppenstufen sind zu bewältigen, wenn sie nach dem Einkauf zurück in ihr romantisches Reich will. Einen Lift gibt es nicht, dafür jede Menge Geschichte. Denn der Blaue Turm, Bad Wimpfens Wahrzeichen aus staufischer Vergangenheit, sah schon Kaiser und Könige, wenn sie in der größten Pfalz nördlich der Alpen Hof hielten.
- Anfahrt: Bad Wimpfen liegt an der A6 zwischen Mannheim und Heilbronn. Über die Ausfahrt 35 Bad Rappenau geht es über Bonfeld nach Bad Wimpfen.
Die Stadt ist zudem sehr gut mit dem Zug zu erreichen, entweder mit einem Regionalexpress auf der Strecke Heidelberg–Heilbronn oder mit S-Bahnen ab Heilbronn. - Die Ritterstiftskirche in Bad Wimpfen im Tal hat in der Regel von 8 bis 17 Uhr geöffnet. Es werden regelmäßig öffentliche Kirchenführungen angeboten.
- Allgemeine Informationen: Kultur- & Tourist-Information, Tel.: (07063) 97200,
www.badwimpfen.de/gaeste-bereich/startseite
Die Autorin wurde bei der Recherche von der Touristikgemeinschaft Burgenstraße unterstützt.
Dass Blanca Knodel überhaupt ihre große Liebe verlassen musste, lag an den vielen Rissen im Mauerwerk des 58 Meter hohen Bergfriedes. »Der Turm ist im Lauf der vergangenen 170 Jahre viel zu schwer geworden«, erzählt Stadtführerin Christiane Wolpert, die in historischem Gewand Besucher durch das 7000-Seelen-Städtchen am Neckar führt. Genauer gesagt: Bad Wimpfens adipös gewordene Landmarke bringt mittlerweile 400 Tonnen mehr auf die Waage. Die Gründe für diese Gewichtszunahme sind vielfältig – Eisenbänder, Betoninjektionen zur Stabilisierung, vor allem aber die neugotische, steinerne Haube mit der Türmerwohnung, die eine frühere, filigrane Fachwerkkonstruktion ersetzte, waren viel zu viel für das bröckelig gewordene Fundament. Angesichts des ewigen Herumdokterns habe mancher Einheimische gar mit dem Abriss und dem Wiederaufbau des Blauen Turmes geliebäugelt, erzählt Christiane Wolpert. »Doch dann wäre es eben kein Original aus jener Epoche, als Bad Wimpfen unter den staufischen Kaisern eine bedeutende Metropole war«, erklärt die Stadtführerin.
Glücklicherweise blieben die Stimmen für einen Abriss ungehört. Stattdessen wurden 6,5 Millionen Euro in die Hand genommen, um den markanten Himmelsstürmer mit seinen vier Ecktürmchen fit für die Zukunft zu machen. Er ist das Sahnehäubchen über einer Stadt, deren mittelalterliche Erscheinung dem Umstand zu verdanken ist, dass über Jahrhunderte hinweg Armut das Leben der Bürger diktierte. Nach dem Dreißigjährigen Krieg und zwei Pestepidemien, die die Einwohnerzahl von 3000 auf ein paar Dutzend dezimierten, war die einstmals blühende Reichsstadt so entvölkert und verarmt, dass Nürnberg den Verbliebenen unter die Arme greifen musste: Zum Dank errichtete man in der Altstadt das Nürnberger Türmchen. Das holprige Kopfsteinpflaster, die schmucken Fachwerkhäuser im Auf und Ab der malerischen Gassen, das fotogene Bügeleisenhaus, die mehr als zweihundert Meter lange, teilweise noch gut erhaltene Pfalz mit ihren Palas-Arkaden und den Türmen – all das wäre womöglich nicht mehr da, wenn einst Geld für Neues vorhanden gewesen wäre.
Schon die Kelten siedelten am Zusammenfluss von Neckar und Jagst. Die Römer errichteten hier ein Kastell sowie eine Eichenholzbrücke über den Neckar, wo sich Händler und Handwerker ansiedelten. Bad Wimpfens Keimzelle lag somit am Fluss, dem heutigen Stadtteil Bad Wimpfen im Tal, und nicht etwa auf dem Berg, wo die Staufer ihre uneinnehmbare Königspfalz errichteten und der Dominikanerorden ein Kloster gründete. In die ungleich ältere Talstadt verirren sich nur wenige Besucher. Dabei gilt die Ritterstiftskirche, auf römischen Mauern errichtet, als Meisterwerk der Frühgotik auf deutschem Boden und als eine der bedeutendsten Kirchen Süddeutschlands. Gemeinsam mit dem Kloster, wo sich Pilger und Radler auf dem Neckartal-Weg für eine oder mehrere Nächte einquartieren können, bildet sie ein beeindruckendes Gesamtensemble, dessen Schmuckstück der gotische Kreuzgang mit den wundervollen Maßwerkfenstern ist. Er wird regelmäßig für Konzerte genutzt.
Das Ende der Reichsstadt kam mit der Neuordnung des deutschen Südwestens infolge der napoleonischen Kriege. Bayern, Baden und Württemberg buhlten um das Städtchen, das Rennen machte die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt. Nicht die schlechteste Zeit für die Wimpfener, auch wenn das nächste hessische Örtchen, Hirschhorn, 56 Kilometer weit weg war. Die Großherzöge waren kunstsinnig und sorgten dafür, dass 1817 erfolgreich nach Salz gebohrt wurde. Die Siedesalz-Produktion rechnete sich zwar nicht, doch für therapeutische Zwecke ließ sich die Sole bestens nutzen. Alte Postkarten zeigen das Mathildenbad, das erste Kurmittelhaus, wo die feine Gesellschaft heilkräftiges Wasser schlürfte und durch die Wandelhalle spazierte. »Hier kurte die hessische Haute Volée«, erzählt Stadtführerin Wolpert über jene Epoche, deren wichtigste Hinterlassenschaft das Bahnhofsgebäude, Jahrgang 1867, ist. Heute planschen die Kurgäste im angenehm temperierten Wasser des Solebades.
Dass die hessische Insel, 1930 zum Heilbad erhoben, letztendlich bei Baden-Württemberg landete, hing an wenigen Stimmen. Bei einer Volksabstimmung im April 1951 stimmten 1447 Wimpfener für die Zugehörigkeit zu Württemberg, 1058 für Hessen und nur 20 für Baden. »Länderrechtlich gehören wir eigentlich noch zu Hessen, weil ein Staatsvertrag nie abgeschlossen wurde«, so Christiane Wolpert, die im normalen Leben an einer Berufsschule in Heilbronn arbeitet.Wenn Blanca Knodel aus dem Fenster blickt, spielt das alles keine Rolle. Ihr Blick fällt auf die steilen Dächer der denkmalgeschützten Altstadt, auf den Roten Turm, auf Stadtkirche und Spital, wo die reichsstädtische Geschichte der Stadt veranschaulicht wird. Als sie 1996 ihr kleines Reich in luftiger Höhe bezog, war sie buchstäblich aus einer unglücklichen Ehe getürmt. Heute gibt es für die 71-Jährige keinen besseren Platz, um alt zu werden. Die nächsten 14 Jahre will die Türmerin dort oben aushalten, wie sie in einem Interview erklärte: »Dann bin ich 85 und ein Jahr älter als der Türmer von Nördlingen. Das bin ich uns Frauen als einzig weibliche Türmerin schließlich schuldig.«
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