»Die Mullahs müssen weg«

In Berlin gingen Zehntausende in Solidarität mit den Protesten im Iran auf die Straße

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 5 Min.

Schon in der S-Bahn fängt es an: »Weg, weg, weg, die Mullahs müssen weg«, rufen Menschen auf dem Weg zum Protest in Solidarität mit den Menschen im Iran. Die Wege in Richtung Berliner Siegessäule sind vor dem offiziellen Beginn der Iran Freedom Rally (Kundgebung für die Freiheit des Iran) um 15 Uhr voller Menschen. Auf der Straße des 17. Juni stehen Dutzende Reisebusse, aus ganz Europa waren Exil-Iraner*innen dem Demo-Aufruf gefolgt. Darunter auch Reyhan. Die junge Frau mit dem iranischen Schal ums Gesicht ist aus Straßburg angereist und steht an, um auf die Aussichtsplattform der Siegessäule zu gelangen: »Wir sind hier, um unsere Solidarität mit den Menschen im Iran zu zeigen«, sagt sie dem »nd«. Was sie bewogen hat, für den Protest nach Berlin zu fahren? »Hamed Esmaeilion hat dazu aufgerufen, ihm vertrauen wir«, erklärt Reyhan. Esmaeilion ist ein bekannter iranischer Aktivist. Seit seine Familie bei dem Abschuss einer ukrainischen Passagiermaschine durch die Revolutionsgarden nahe Teheran im Januar 2020 starb, spricht er häufig bei Protesten von Iraner*innen im Ausland, so auch an diesem Tag in Berlin.

Angemeldet wurde der Protest von dem transnationalen Kollektiv Women*_Life_Freedom, das sich als intersektional-inklusive Gruppe von Feminist*innen, unabhängigen Bürger*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen versteht und sich gegen Unterdrückung und Diskriminierung im Iran starkmachen will. Gerechnet hatte das Bündnis mit 50 000 Menschen, gekommen sind letztendlich weit mehr. Die Polizei vermeldete am Nachmittag rund 80 000 Teilnehmende, andere Beobachter*innen gehen von über 100 000 Menschen aus. Das Kollektiv zeigt sich zufrieden: »Die Demo war riesig. Wir haben gezeigt, wie wir transnationale Solidarität praktizieren können«, sagt Sanaz Azimipour zu »nd«. Die Veranstalter*innen hatten dazu aufgerufen, sich über politische und Generationsgrenzen hinweg zu verbünden: »Unser Widerstand vereint uns. Nur gemeinsam sind wir stark genug, um den Kern der Unterdrückung zu besiegen: das repressive, korrupte und patriarchale System der Islamischen Republik.«

Ihr Aufruf scheint erfolgreich gewesen zu sein. Auf der Demo finden sich Männer und Frauen, LGBTIQ, junge, mittelalte und alte Menschen, Familien und Kinder, Monarchist*innen, Anarchist*innen und queere Aktivist*innen. Viele Teilnehmende tragen kurdische Flaggen und solche mit den Farben der iranischen Flagge, manche auch als Schminke im Gesicht und Luftballons in der Hand. Die Farben symbolisieren mit grün den Islam, weiß Frieden und Freundschaft und rot Mut und vergossenes Blut im Krieg. Häufig ist das Reichsemblem Persiens zu sehen, das einen Löwen mit Säbel vor aufgehender Sonne zeigt. Doch niemals die offizielle Flagge der islamischen Republik, in deren Mitte das Wort Allah (Gott) in stilisierter persich-arabischer Schrift prangt.

Die Lage am Großen Stern ist unübersichtlich, beständig strömen neue Menschen hinzu, der Demozug bewegt sich sehr langsam über die kurze Route durch den Berliner Tiergarten. In der Menge hatte man das Gefühl, sich kaum zu bewegen. Trotzdem hat dieser Protest eine unheimliche Energie, man spürt die Wut und Trauer der Menschen, niemals ist es still. Immer wieder rufen die Menschen »Jin, Jiyan, Azadi« und »Zan, Zendegi, Azadi« – das Motto der Proteste »Frau, Leben, Freiheit« auf kurdisch und persisch. Das gemeinsame Ziel scheint der Sturz des islamischen Regierungssystems zu sein. Die Demonstrierenden rufen: »Wir wollen keine islamische Republik« und fordern den Tod Khameneis. Ali Khamenei hat im Iran als oberster Religionsführer und Staatsoberhaupt in allen wichtigen Belangen das letzte Wort. Die landesweiten Proteste hatte Chamenei jüngst als eine Verschwörung aus dem Ausland bezeichnet.

Um 17.15 Uhr, mehr als zwei Stunden nach Beginn der Demo, hat die Spitze des Protestzugs noch immer nicht die knapp drei Kilometer Strecke zurückgelegt. Die Kundgebung wird verschoben. Auch als sich die Reihen wieder dichter am Großen Stern drängen, bleibt die Stimmung kämpferisch und solidarisch zugleich. Die Polizei wird die Demonstration in Berlin später als »überwiegend störungsfrei« bezeichnen. Die Redebeiträge sind vor allem auf Persisch, teils auf Kurdisch, manchmal auch auf Englisch oder Deutsch und beziehen andere Minderheiten im Iran wie die Belutschen ein.

Am Abend spricht Hamed Esmaeilion unter großem Jubel. Seine emotionale Rede erinnerte vom Wortlaut an die berühmte »I have a dream«-Rede von Martin Luther King. »In unseren Träumen weht der Wind der Freiheit durch das Haar der Frauen, Nachbarländer werden in Frieden gelassen und niemand liefert Waffen an Putin, um Ukrainer zu töten. (…) Wir alle haben Träume, und unsere Träume werden nur Wirklichkeit, wenn der Iran von den Fesseln einer islamischen Republik befreit wird«, sagte der 45-Jährige und zeichnet die Möglichkeit eines demokratischen Iran. Er appelliert an die EU, die Revolution im Iran als solche anzuerkennen und mahnt konkrete politische und wirtschaftliche Maßnahmen an: »Wir fordern die Ausweisung iranischer Diplomaten und gezielte Sanktionen gegen die Anführer und Agenten der islamischen Republik«, so Esmaeilion.

Im Iran gehen die Menschen seit fünf Wochen massenhaft auf die Straße. Auslöser war die Ermordung der kurdischen Iranerin Mahsa Jina Amini durch die »Sittenpolizei« in Teheran. Bei den landesweiten Protesten im Iran sind nach Einschätzungen von Menschenrechtlern bislang mehr als 240 Menschen getötet worden, darunter auch Minderjährige.

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