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Klassentreffen der Ewiggestrigen
Architektur ist politisch: Die Stiftung Mitte Berlin will die Vergangenheit zurückholen
»Wir kommen jetzt aus unseren Löchern hervor«, freut sich Marie-Luise Schwarz-Schilling. Was sich in so manchen Ohren als Drohung anhört, war ihr heiteres Fazit zum Ende eines mehrtägigen Festivals, veranstaltet von der von ihr gegründeten Stiftung Mitte Berlin. Die Stiftung hat sich nicht nur den Wiederaufbau von Berlins historischer Mitte zum Ziel gesetzt. Man will dem Berliner nebenbei auch gleich seine Geschichte wieder näherbringen. Mit der Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt (parteilos, für SPD) und dem ehemaligen Regierenden Bürgermeister Walter Momper (SPD) hatte Stifterin Schwarz-Schilling am Sonntagabend gleich zwei prominente Fürsprecher an ihrer Seite.
Welche Geschichte wieder ausgebuddelt werden soll, ist klar. Die 90-jährige Schwarz-Schilling – die als Schülerin seit einem Ausflug über die Mühlendammbrücke zum Molkenmarkt immer eine Eins im Fach Heimatkunde gehabt habe, wie sie erzählte – predigte in der Parochialkirche von der Bürde, die die Hohenzollern den Normalsterblichen hinterlassen hätten. »Wir alle haben uns daran gewöhnt, dass unsere Vorfahren, die feinen Leute, Schlösser und Plätze gebaut haben«, sagte die Erbin und einstige Chefin einer in den 90er Jahren schließlich verkauften Batteriefabrik. »Wir zehren immer noch davon, was die Könige, die wir mitunter verachten, gebaut haben. Aber heute haben wir keine Adligen mehr und müssen es selbst schön machen.«
Schön machen, das bedeutet hier, das »Herz der Stadt« zu rekonstruieren. Und gemeint ist insbesondere der Molkenmarkt hinter dem Nikolaiviertel, wo nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg ein Straßenknoten entstand. 2016 hatte der Senat einen Bebauungsplan beschlossen, mit dem die historische Struktur des Viertels wiederhergestellt werden soll. Die Freunde der Rekonstruktion, die nach der Altstadt in Frankfurt am Main, der Potsdamer Garnisonkirche und dem Berliner Humboldtforum noch nicht genug haben, scharrten mit den Hufen. »Ich will den großen Jüdenhof wiederhaben, den finde ich so niedlich«, erklärte Schwarz-Schilling.
Für die Erfüllung ihres Wunsches braucht es Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt. »Berlin ist die einzige Stadt zwischen Kap Arkona und dem Erzgebirge oder Garmisch-Partenkirchen im Süden, also irgendeiner schönen Stadt im Süden, die es nicht geschafft hat, ihr Zentrum wieder in Ordnung zu bringen«, sagt Kahlfeldt. Mit ihr soll nun alles anders werden. Einen Wermutstropfen musste Kahlfeldt den Rekonstruktionsfreunden aber dennoch einschenken: »Der Molkenmarkt wird nicht seine historische Geometrie bekommen können, das ist den Trambahnen geschuldet.« Viel Kritik bis hin zu Rücktrittsforderungen musste sich die Architektin in den vergangenen Wochen für ihren Umgang mit dem Verfahren zum Molkenmarkt anhören.
»Meiner Meinung nach völlig zu Unrecht, aber egal«, winkte sie ab. Sie sei enttäuscht, dass so viel über das Verfahren diskutiert werde und so wenig inhaltlich über die Entwürfe. In einem Wettbewerbsverfahren zur künftigen Gestaltung des Molkenmarkts sollte Mitte September eigentlich ein Sieger gekürt werden, die Entwürfe von zwei Architektenbüros standen zur Auswahl. Zuvor hatte es bereits ein langes Partizipationsverfahren gegeben, in dem Leitlinien erarbeitet wurden, die bezahlbare Wohnungen, kostengünstige Kulturräume und Klimaresilienz zusammendachten. Vor allem eines der beiden Architektenbüros hatte mit seinem Entwurf diesen Leitlinien entsprochen.
Doch statt einen Sieger zu küren, erklärte Kahlfeldt, dass dies nie geplant gewesen sei. Die Entrüstung war groß, zumal allerhand unzweideutige Dokumente hochgehalten oder frühere Internet-Seiten rekonstruiert wurden, die stark daran zweifeln lassen, dass nie ein Sieger gekürt werden sollte. Am Sonntag bedankte sich eine Besucherin des Mitte-Festivals immerhin bei Kahlfeldt für den Abbruch des Verfahrens. »Sie brauchen mir nicht zu danken, ein Ergebnis war in der Auslobung nicht vorgesehen«, korrigierte Kahlfeldt sie.
Wie es ohne Sieger am Molkenmarkt nun weitergehen soll, berichtete die Senatsbaudirektorin auch. So werde ein Sonderreferat für die historische Mitte in der Senatsbauverwaltung eingerichtet. Die beiden Architekturbüros blieben in einem Gestaltungsbeirat an dem Prozess beteiligt. Alles, was bisher passiert sei – der Masterplan, Entwürfe und die »Hausaufgaben« aus dem Werkstattverfahren –, fließe dann in eine von der Senatsverwaltung erarbeitete Charta Molkenmarkt und ein Gestaltungshandbuch ein. Ein Jahr soll das dauern. Wenn’s schön werden soll, macht man’s lieber selbst. Vergessen sind dann vielleicht auch die knapp 800 000 Euro, die das Wettbewerbsverfahren ohne Sieger gekostet hat, wenn für den Molkenmarkt wiederum Fördermittel vom Bund eingeworben werden. Zumindest sei das möglich, wenn man gut plane, so Kahlfeldt.
Ganz angetan von der rekonstruktierten Vergangenheit ist mit Walter Momper auch ein Regierender Bürgermeister aus der Vergangenheit. Momper hat seinen Parkplatz bei der Ruine des Grauen Klosters in der Klosterstraße und findet es ganz furchtbar, wie es da aussieht. »Die alte DDR-Stadtplanung für die Mitte muss abgelöst werden von einer jüngeren Stadtplanung für die Menschen, die da leben«, sagte der 77-Jährige vor einem nicht allzu jungen Publikum. Er wünsche sich, »dass überall an das Alte wieder angeknüpft wird, soweit das denn geht«. Für den Molkenmarkt solle möglichst kleinteilig geplant werden.
»Nur nur Städtische, auch Genossenschaften, Baugruppen oder Private sollen bauen«, schritt der SPD-Politrentner die Tonleiter der Quadratmeterpreise nach oben ab. Genau diese Parzellierung ist einer der Konflikte am Molkenmarkt. Denn kleine Häuser, die am Ende beispielsweise auch alle einen eigenen Treppenaufgang hätten, führen zu hohen Baukosten. Wer am Ende vor Ort wohnen kann, entscheidet sich somit auch über die Entwürfe für die Gebäude.
Doch beim Mitte-Festival der Stiftung von Schwarz-Schilling hatte man ganz andere Sorgen. Da bereiteten einem die großen Themen noch Bauchschmerzen. Stichwort: die Berliner Verwaltungen. Eigentlich brauche es eine Reform der Zweistufigkeit der Verwaltung für die historische Mitte, sagte Benedikt Goebel, Vorstandsmitglied der Stiftung am Sonntag. Auch Kahlfeldt, deren Vorstellung von Applaus unterbrochen wurde, als Goebel in ihrem Lebenslauf im Dezember 2021 bei ihrer Ernennung zur Senatsbaudirektorin angekommen war, gab diesbezüglich Erhellendes aus ihrer bald einjährigen Erfahrung zu Protokoll. »Die Berliner Verwaltungen sind derartig ausgetrocknet worden, dass sie kaum arbeitsfähig sind«, sagte Kahlfeldt.
Im Publikum sah man das genauso. Ein Besucher sprach von zu reformierenden Prozessen, »damit man auch mal was durchziehen kann«. Ob der Mann nicht nur der Architektur, sondern auch der Verwaltung des Preußenstaats nachtrauerte, wurde nicht ersichtlich.
Eine andere große Sorge galt dem Umgang der Berliner mit der Geschichte. Der Architekturkritiker Gerwin Zohlen war überzeugt: »Der Geschichtshass kommt nicht aus der Bevölkerung, sondern von einer meinungsstarken Power Group.« Er meinte, dass die Berliner durchaus für die Rekonstruktion zu gewinnen seien. Wer nicht glauben wolle, der müsse sehen – so sein Motto. Mit Leitbauten solle simuliert werden, wie es mal aussehen könne. »Damit die Leute sich das vorstellen können.« Walter Momper widersprach ihm. Die Power Group sei nicht schuld. »Es ist keine Minderheit, der Mehrheit der Menschen ist die Gegenwart wichtig, die Zukunft nur in Maßen und manche Erinnerung an Altes gar nicht«, wurde er philosophisch.
Auch bei der Abschlussveranstaltung des Mitte-Festival gab es den einen oder anderen, dem manche Erinnerung an Vergangenes nicht so wichtig erscheint. Ein älterer Herr stellte sich als Gerhard Hoya von der Gesellschaft Historisches Berlin (GHB) vor. Er sei nicht so begeistert vom DDR-Bau an der Klosterstraße. Auch die Klosterruine, die als Mahnmal an den Krieg erhalten werde, missfalle ihm. »Wir haben eigentlich genug Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg in Berlin«, ließ er sich ein. Das Motto kennt man: Irgendwann ist es auch mal gut, und die Ära des Kaiserreichs dauerte doch sowieso viel länger als das bisschen Krieg.
Damit dieses auch architektonisch wieder angemessen gewürdigt wird, hatte man sich hier beim Mitte-Festival eingefunden. Das Festival war letztlich auch nur der Beginn von etwas Größerem, wie einem glauben gemacht wurde. Auftritt Anette Ahme vom Verein Berliner Historische Mitte: »Wir brauchen den Spirit, den wir hier bekommen haben.« Denn in der Parochialkirche sei über die Tage ein »Zauber« entstanden, den gelte es jetzt mitzunehmen, damit die Menschen in Berlin künftig ein gemeinsames Bild der Stadt in ihrem Kopf hätten, wie in anderen Städten auch.
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