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Auslöschung der Polio oder Rückkehr?

Beim Kampf gegen die Infektionskrankheit gab es große Erfolge. Neue Ausbrüche werfen jedoch Fragen auf

Impfaktion gegen Kinderlähmung in Poá im Bundesstaat São Paulo in Brasilien 2013.
Impfaktion gegen Kinderlähmung in Poá im Bundesstaat São Paulo in Brasilien 2013.

Eigentlich sollte Kinderlähmung bis zum Jahr 2000 ausgelöscht sein. So zumindest lautete das Ziel der »Global Polio Eradication Initiative« (GPEI), einer internationalen Kampagne der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit der Impfallianz Gavi und der Gates-Stiftung. Dann wurde 2020 als neue Zielmarke gesetzt und ebenfalls gerissen. Bei einer Geberkonferenz auf dem World Health Summit in Berlin wurden kürzlich Finanzzusagen von 2,6 Milliarden Dollar für Impfungen eingesammelt, um die Krankheit bis 2026 zu besiegen. Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) sprach dabei von einer »realistischen Chance, Polio vollständig auszurotten«. Auch am gestrigen Welt-Polio-Tag wurde bei Veranstaltungen auf die Relevanz des Themas aufmerksam gemacht.

Poliomyelitis ist eine hochinfektiöse Viruskrankheit, die in seltenen Fällen zu Lähmungen der Arme, Beine und der Atmung führt. Das Virus greift das Rückenmark an und breitet sich im Darm aus. Ansteckungen gibt es meist durch Schmierinfektion, schlechte hygienische Zustände befördern die Ausbreitung. Besonders fies: Das Virus verursacht vor allem bei Kindern schwere Verläufe, woraus sich der deutsche Name für die Krankheit ableitet. Erste größere Epidemien wurden Ende des 19. Jahrhunderts aus Schweden und den USA bekannt. Später konnte maschinelle Beatmung durch die sogenannte Eiserne Lunge viele Todesfälle vermeiden.

Gamechanger im Kampf gegen die Kinderlähmung waren die in den 1950er Jahren entwickelten Lebendimpfstoffe mit abgeschwächten Viren, die oral verabreicht wurden. Da Viren ausgeschieden werden, gab es den durchaus erwünschten Nebeneffekt, dass Familienmitglieder häufig gleich mit immunisiert wurden. Die Schluckimpfung, die auf der Schleimhaut ansetzt, sorgt für eine sterile Immunität – diese Menschen können sich also nicht mehr infizieren. Innerhalb weniger Jahre gingen die Neuerkrankungen etwa in Europa um 99 Prozent zurück, das seit über 20 Jahren als poliofrei gilt.

Im globalen Süden blieb das Thema akut. Ende der 1980er Jahre gab es noch mehrere Hunderttausend Fälle. Diese Zahlen gingen dank der GPEI, mit deren Hilfe mehr als 2,5 Milliarden Kinder geimpft werden konnten, ebenfalls drastisch zurück. Im Jahr 2021 gab es vereinzelte Fälle mit dem Wildtyp 1 nur noch in Afghanistan und angrenzenden Regionen in Pakistan.

Zwei Punkte sorgen indes für Gegenwind. Viele entwicklungspolitische Organisationen beklagten während der Corona-Pandemie, dass andere gefährliche Krankheiten aus dem Blick gerieten. Gesundheitspersonal wurde für den Kampf gegen Covid-19 abgezogen, gesundheitliche Einrichtungen wurden temporär geschlossen. Reisebeschränkungen führten zu Lieferengpässen bei Vakzinen, und es kamen auch weniger Leute zu den Impfstationen. Dies traf auch für Polio zu. Die Immunisierungsrate ging hier im Jahr 2021 auf 80 Prozent zurück.

Das Hauptproblem ist schon länger bekannt: »Kopfzerbrechen bereitet uns immer noch das zirkulierende Impfpoliovirus, das ist das größere Problem« als der Wildtyp, wie der Wiener Tropenmediziner Herwig Kollaritsch gegenüber dem österreichischen »Ärzteblatt« erläuterte. Wenn die bei der Schluckimpfung verabreichten Viren lange genug in der Bevölkerung zirkulieren, können sie mutieren und sich in eine gefährliche Variante zurückbilden. Das wird dadurch zum Problem, da mittlerweile in vielen Ländern im globalen Norden Totimpfstoffe zum Einsatz kommen, die gespritzt werden und die ausgerechnet den mutationsfreudigen Wildtyp 2 nicht abdecken. Geimpfte werden zwar nicht krank, sie können aber Viren aufnehmen und weitergeben. Sind dann auch noch die Impfquoten niedrig, kann die Polio dorthin zurückkehren, wo sie eigentlich als ausgelöscht galt.

In den USA wurde im Juli erstmals seit zehn Jahren ein Fall mit schweren Lähmungserscheinungen registriert; es traf einen jungen Mann aus Rockwell im Bundesstaat New York. »Einzelfälle wie dieser sind immer nur die Spitze des Eisbergs«, warnt Walter Orenstein, Infektiologe an der Emory University in Atlanta/Georgia. Im Schnitt bilde nur eine von 200 infizierten Personen solche sichtbaren Symptome aus. Da Polioviren später auch im Abwasser von New York City entdeckt wurden, rief Gouverneurin Kathy Hochul im September sogar den Katastrophenfall aus. Auch in London und Jerusalem wurde man bei Abwasseruntersuchungen fündig. Mark Pallansch, ein US-Poliovirologe, sagte im Wissenschaftsmagazin »Science«, der Fall aus Rockwell sei »tragisch, aber völlig vorhersehbar und vermeidbar«. Dort kursierte das Virus in einer jüdisch-orthodoxen Gemeinschaft mit sehr niedriger Impfquote.

Experten gehen aber davon aus, dass selbst mit niedriger Impfabdeckung das Virus selbst »ausbrennt«, weil die empfängliche Bevölkerung nicht groß genug ist, um die Ausbreitung aufrechtzuerhalten und es gute sanitäre Bedingungen gibt. In Deutschland wähnt man sich auch dank einer Impfquote von gut 92 Prozent auf der sicheren Seite.

Anders sieht es im globalen Süden aus. In diesem Jahr wurden aus Afrika, das die WHO erst 2020 für poliofrei erklärt hatte, wieder Hunderte Fälle gemeldet. In Mosambik trat sogar wieder ein Wildtyp auf, und vor allem das Impfvirus vom Wildtyp 2 zirkuliert.

Trotz alledem weisen Experten darauf hin, dass der Kampf gegen Polio sehr weit fortgeschritten ist und eigentlich nur noch »die letzte Hürde genommen werden muss«, wie es etwa die Fachzeitschrift »The Lancet« ausdrückt. Hilfreich dabei könnten auch neue orale Impfstoffe sein, bei denen Viren verabreicht werden, die nicht mehr mutationsfähig sein sollen. Es brauche zudem wieder höhere Impfquoten und mehr Abwasseruntersuchungen in Großstädten. Bei kleineren lokalen Ausbrüchen müsse in der Gegend sofort verstärkt geimpft werden, um das Virus gleich wieder einzufangen. Und auch eine Verbesserung der Lebensbedingungen sei notwendig. Vor allem muss das Problem trotz relativ geringer Zahlen ernst genommen werden. »Das Wiederauftreten von Polio in zuvor poliofreien Ländern in diesem Jahr führt uns nachdrücklich vor Augen, dass die Krankheit weltweit wieder um sich greifen kann, wenn wir unser Ziel der globalen Auslöschung nicht erreichen«, warnt WHO-Generaldirektor Tedros Ghebreyesus.

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