Werbung
  • Kultur
  • Frankfurter Buchmesse

Wem gehört Sylt?

Alle haben Kummer: Dörte Hansen erzählt in ihrem Roman »Zur See« von einer Familie, die unter dem Druck des Tourismus auseinanderbricht

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Juli war auf der Titelseite des »Spiegel« zu lesen: »SOS Sylt. Wie Multimillionäre die Insel kapern«. Es war die Zeit, als Punks mit dem 9-Euro-Ticket auf die Nordseeinsel fuhren und FDP-Chef Christian Lindner dort seine Luxushochzeit feierte. Tenor der Recherche: Superreiche motzen ihre Zweit- oder Drittwohnung auf, während den Alteingesessenen das Leben auf der Insel zu teuer wird.

Wem gehört die Insel? Diese Frage spielt auch in Dörte Hansens neuem Roman »Zur See«, entstanden vor dem Sommertheater um Punks und Promis, eine Rolle. An einer Stelle wird eine Antwort gegeben: »Vielleicht gehört sie längst den Wellenreitern und den Wolkenmalern, den Nacktbadern und Muschelsuchern …« Oder den »Eintagsfliegen«, jenen Touristen, die nur für einen Tagesausflug auf die namenlose Nordseeinsel kommen.

Hansens Roman ist eine Geschichte vom Wandel des Tourismus. Zunächst heißen die Gäste vom Festland Sommerfrischler, dann Badegäste und schließlich Touristen, die sogar im Herbst und Winter kommen, »nicht mehr abzuschütteln sind wie Sand vom Kleid«.

Und der neue Roman der Bestsellerautorin ist eine Geschichte darüber, was dieser Wandel für die alteingesessenen Inselbewohner bedeutet. Nichts Gutes, ausgenommen, dass man leichtes Geld mit Tourismusdienstleistungen verdienen kann. Aber früher war es eben auch nicht besser. Hansen neigt nicht dazu, die alte Zeit zu verklären. Weder in ihrem Vorgängerbuch »Mittagsstunde« (2018) die Zeit vor Flurbereinigung und industrieller Landwirtschaft noch in »Zur See« jene der alten Seemannsfamilien. Egal wann, das Land- oder das Inselleben – es setzt den Leuten zu, nur anders.

In »Zur See« wird dies anhand der Familie Sander durchexerziert. Vater Jens fuhr monatelang zur See, weil das halt so üblich war auf einer Insel, die von Nachfahren der Grönlandfahrer besiedelt ist. Und wenn ein Sohn mal einen »trockenen« Beruf wie Bäcker oder Tischler ergriff, schämten sich Vater und Onkel. Doch für Jens wie für Sohn Ryckmer ist das Zur-See-Fahren nichts, beide hängen ihren Job an den Nagel. Der Vater verlässt gar für 20 Jahre Frau und Kinder und wird Vogelwart auf einer unbewohnten Insel. Die Kinder blieben ihm fremd, und er fühlte sich als Fremdkörper in einem Kapitänshaus, das zur Pension geworden ist.

Ryckmer wird nach einem traumatisierenden Sturmerlebnis auf See schwerer Alkoholiker, der sich vor dem Versinken fürchtet. Von den Männern der Familie Sander ist nur der jüngste Sohn Henrik nie zur See gefahren. Aber den »Sonderling« und Künstler, der stets barfuß läuft, zieht es täglich an den Strand, Treibgut sammeln, mit dem er »seltsame Gestalten, Wassergeister, Meeresdrachen« baut – begehrt in Galerien.

Und die Frauen? Mutter Hanne hat nicht viel Geduld mit Männern, die nach Monaten von Schiffen kommen und sich daheim nicht in das Alltagsleben einfügen können. Ihren Kummer, ihre Wut übertüncht sie mit Geschäftigkeit. Über Jahre hinweg in den Sommermonaten für die Sommerfrischler in ihrer Pension, für die die Kinder ihre Zimmer räumen müssen. Später für ein Inselmuseum.

Tochter Eske wiederum litt unter der Mutter, die über Monate nur für die Gäste lebte und mit den Gästekindern freundlicher sprach als mit ihren eigenen. Sie fühlte sich verraten und verkauft, »vorgeführt wie ein dressiertes Inseltier«. Die Touristen werden ihr zum Feindbild. Ihre Art des Widerstandes: wenigstens einem entgegenkommenden Urlauberauto nicht ausweichen.

Und alle Sanders leiden am Kummer, den das harte Leben der Vorfahren ihnen hinterlassen hat. Seefahrer, die nicht nach Hause kamen, mit ihren Schiffen untergingen, von Walen in die See gezogen wurden; Kinder, die in Hafenbecken fielen und ertranken. Aber dennoch schaffen sie es nicht, den Brocken Erde zu verlassen.

Es ist beeindruckend, wie Hansen mit ihrer lyrischen Sprache eine düstere Atmosphäre kreiert, die das Verschwinden der alten Inselkultur und ihrer Bewohner durch Health Resorts, Hotels und Erlebnisbäder beschreibt.

Dörte Hansen: Zur See. Penguin, 256 S., geb., 24 €.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -