- Kommentare
- Inspiration Porn
Nicht deine Inspiration
Greta Niewiadomski über Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen
Mittlerweile sollte jede*r mitbekommen haben, dass Menschen mit Behinderungen zu den am stärksten diskriminierten und stigmatisierten Minderheiten bei uns gehören. Aber neben den offensichtlichen, körperlichen und verbalen Anfeindungen gibt es noch eine ganz andere Form der Diskriminierung: den sogenannten Inspiration Porn. Was soll das sein? Jemanden als Inspiration zu sehen, ist doch eigentlich etwas Positives. Oder etwa nicht?
Beim Inspiration Porn geht es darum, jemanden öffentlich als Inspiration zu betrachten, ohne dass es jedoch von der betreffenden Person erwünscht oder eingefordert wurde. Folglich werden Menschen aufgrund ihrer Behinderung als Inspiration wahrgenommen und nicht wegen besonderen Leistungen oder herausragenden Taten. Leider geht dabei die eigentliche positive Konnotation des Wortes »Inspiration« verloren. Es wird dann in diskriminierenden Situationen als Abwertung genutzt.
Das ist jetzt vielleicht alles ein bisschen verwirrend. Denn eigentlich freuen wir uns ja darüber, wenn Menschen uns als inspirierend empfinden. Der Unterschied liegt wie immer im Detail. Wir möchten als Inspiration gesehen werden, wenn wir stolz auf etwas sind. Nicht, wenn wir essen, trinken, spazieren gehen, sprechen oder einfach existieren. Beim Inspiration Porn passiert aber Letzteres. Wir bewundern eine Person dafür, dass sie alltägliche Dinge bewältigen kann, die wir ihr aufgrund der Behinderung nicht zugetraut hätten. Das ist zutiefst abwertend und entmenschlichend. Kein schönes Gefühl.
Um das Ganze etwas anschaulicher zu machen, gebe ich ein Beispiel: Ein Freund von mir, Michael, hat keine Arme. Er lebt allein, arbeitet als Beamter und segelt wie ein Weltmeister. Einfach ein cooler, netter und interessanter Typ. Michael wird regelmäßig angestarrt und bewundert, wenn er trinkt. Die Leute finden es inspirierend, dass ein Mensch »wie Michael« trinken kann. Das nervt. Und wenn Michael die Menschen darauf anspricht, dass er noch ganz andere Sachen kann und das Trinken nichts ist, worauf er stolz ist, dann trifft er nur selten auf Verständnis. »Das habe ich aber noch nie gesehen« oder »das könnte ich nicht« bekommt er dann als Antwort.
Und ja, ich gucke auch eine Sekunde länger hin, wenn ich zum ersten Mal jemanden ohne Arme trinken sehe. Aber spätestens beim zweiten Mal sollte es dann zur Normalität geworden sein. Meine Empathie flüstert mir dann leise, aber bestimmt ins Ohr: »Für ihn wird es nicht das erste Mal gewesen sein, und deswegen braucht er dafür deinen Respekt nicht.«
Das zeigt wie egozentrisch wir sehr oft davon ausgehen, dass alle die selben körperlichen und geistigen Voraussetzungen wie wir bräuchten, um ein erfülltes Leben zu führen. Warum ist das so? Ich selbst bin einhändig und kann mir auch nicht vorstellen, wie sich Zweihändige die Schuhe zubinden. Ich glaube ihnen aber, dass sie es beherrschen, weil ich es nicht in Frage stellen möchte.
Wie beschränkt ist unsere Vorstellung, wenn wir immer unseren eigenen Körper als Maßstab nehmen? Wenn Michael erzählt, wie gern er segelt und was er arbeitet, dann finden die Leute es inspirierend, dass er das »trotzdem« macht. Trotz was? Das ist eine sehr subtile Form der Diskriminierung. Sie wird häufig genutzt, ohne sich die enorm abwertende Bedeutung dieses Wortes bewusst zu machen. Es beinhaltet, dass etwas laut unserer Vorstellungskraft nicht möglich ist, und diese Annahme steht uns einfach nicht zu. Woher wollen wir denn wissen, was eine Person kann oder nicht?
Wie so oft ist das bestimmt nicht böse gemeint. Aber es ist verletzend, und deshalb sollten wir damit aufhören. Oder um es mit den Worten der Behindertenrechtsaktivistin Lisa Walters zu sagen: »Mein behinderter Körper ist nicht deine Erinnerung daran, dass es dir schlechter gehen könnte.« Denn eine Behinderung ist kein Freifahrtschein für die Annahme, dass ein Mensch inspirierend, arm (dran), ein Superheld oder ein Opfer ist. Und jegliche Beurteilung ohne explizite Erlaubnis ist leider übergriffig und unangebracht.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!