- Berlin
- Heißer Herbst
Pflastertreten für den Klassenkampf
In Vorbereitung auf die "Umverteilen"-Demo mobilisieren autonome Gruppen in ihren Kiezen
„Wie geht es dir so mit den Preissteigerungen gerade?», fragt Kim eine junge Frau, die mit Kaffeebecher in der Hand auf dem Gehweg gegenüber der U-Bahnstation Lichtenberg steht. Ein irritierter Blick, „wie wahrscheinlich allen?», ein Lächeln mit zusammengepressten Lippen. Aber Kim lässt nicht locker. „Es ist doch mega ungerecht, dass wir jetzt für die Krise zahlen müssen, findest du nicht?» „Ich sehe nicht wirklich, was man machen kann», antwortet die Frau und wendet sich Kim zu. Eine perfekte Vorlage – denn genau darüber, was man machen kann, will Kim reden.
An einem warmen Oktobernachmittag treffen sich Kim García und ihre Mitstreiter*innen in Lichtenberg, um Leute anzuquatschen. Nicht für eine NGO, die aufdringlich Spenden sammelt, auch nicht für eine Partei oder eine Kampagne, die Unterschriften benötigt, nein, als Privatpersonen, die politische Vernetzung anstoßen wollen. Sie gehören zu der anarchistischen Gruppe Perspektive Selbstverwaltung (PS). Ihr Ziel ist es, in zwei Stunden möglichst viele Menschen zu einer Lichtenberger Kiezversammlung und der „Umverteilen»-Demonstration einzuladen. Und damit endlich einen breiten Sozialprotest auf Berlins Straßen zu bringen.
Für den 12. November ruft ein Bündnis aus unterschiedlichen Gruppen wie „Wer hat, der gibt», Ende Gelände und PS dazu auf, gegen Krisenprofiteure und für höhere Löhne und Sozialhilfen zu demonstrieren. Im Gegensatz zu anderen „heißer Herbst»-Protesten steht der Krieg gegen die Ukraine nicht im Mittelpunkt, politische Parteien sind nicht erwünscht. Die Mobilisierung läuft bereits seit ein paar Wochen – und das nicht nur auf Twitter und in Chat-Gruppen. Manche nennen es Basisarbeit, andere Organizing: Die Menschen hinter der Demo haben den Anspruch, für den politischen Kampf Beziehungen zu knüpfen, die über die eigene Blase hinausgehen. Was für Parteien mit ihren Bezirksgruppen, Straßenfesten und Infoständen gängige Praxis ist, eignet sich die außerparlamentarische Linke als Methode wieder an.
„Ich höre oft die Kritik, dass wir Linken nicht in der Gesellschaft verankert sind, aber man muss halt irgendwie damit anfangen», sagt Kim. Es ist nicht das erste Mal, dass sie Fremde in politische Gespräche verwickelt. Der Aufruf zur Kiezversammlung und zur Demo soll nur ein erster Schritt hin zu mehr nachbarschaftlicher Solidarität sein. „Am Ende geht es ja darum, Leute zu aktivieren, dass sie selbst etwas zur Veränderung ihres Lebens und der Gesellschaft tun.»
Bevor es losgeht, gibt Mio von Perspektive Selbstverwaltung Tipps für den Straßen-Smalltalk. Er empfiehlt, mit Fragen anzufangen, auf die wahrscheinlich ein „Ja» folgt. „Bei ›Hast du ne Minute?‹ sagen alle immer Nein.» Wichtig sei es, sich an die Sorgen der Leute heranzutasten, um dann auf die Veranstaltungen hinzuweisen. „Holt euch eine Zusage am Ende», gibt er den Neuzugängen der Gruppe mit. „Wenn Leute einmal sagen, sie kommen, dann ist es viel wahrscheinlicher, dass sie wirklich kommen.»
Viele Passant*innen rennen an Kim vorbei – mit Kopfhörern im Ohr, dem Kind an der Hand oder zu einer Bahn, die es zu erreichen gilt. Diejenigen, die auf ihre Anfangsfrage reagieren, lassen sich jedoch erstaunlich lange auf eine Unterhaltung ein. Die junge Frau mit Kaffeebecher etwa kommt ins Erzählen: Sie arbeite in der Verwaltung. „Vor Corona dachte ich noch, mal schauen, worauf ich so Bock habe, aber jetzt bin ich froh, dass ich einen sicheren Job habe.» Geld zurücklegen könne sie zwar nicht. „Aber ich bin super happy, dass ich mir alles noch leisten kann, auch wenn es teurer wird.»
Kim erlebt es oft, dass Menschen nicht jammern wollen. Dabei sei es wichtig einzusehen, dass man selbst, so wie ein Großteil der Bevölkerung, von der kapitalistischen Umverteilung von unten nach oben betroffen ist. „Es findet doch niemand schön, auf einen 40-Stunden-Job angewiesen zu sein.» Deshalb teilt Kim eigene Erfahrungen und erzählt ihrem Gegenüber etwa, dass sie als Elektrotechnikerin bisher vergeblich auf eine Lohnanpassung wartet.
Das Gefühl, gemeinsam in einem Boot zu sitzen, möchte auch Julia in ihrem Kiez stärken. Sie mobilisiert in Neukölln für die „Umverteilen»-Demo und organisiert dafür mit einer Handvoll Aktivist*innen sogenannte Multiplikator*innen-Ansprachen. Was kompliziert klingt, bedeutet in der Praxis schlicht, die Geschäfte in der Sonnenallee und der Hermannstraße abzuklappern und die dort Beschäftigen für die gemeinsame Sache zu gewinnen – damit der Friseur oder die Kebabverkäuferin ihren Kund*innen demnächst von der Demo erzählen. „So erreichen wir Leute, die wir über andere Mobilisierungswege nicht ansprechen würden.»
Die Reaktionen in den Geschäften? Fast durchweg positiv, erzählt Julia. Mehr noch als die erfolgreiche Mobilisierung liegt ihr der Austausch am Herzen. Besonders kleine Läden hätten von Geldproblemen berichtet, Spätis stünden vor dem Aus. Die Situation einer Bäckerei habe sie besonders schockiert: Mit Aufbackware und günstigem Kaffee ein wichtiger Treffpunkt für Menschen mit wenig Geld, könne sich der Laden, um die Preise nicht erhöhen zu müssen, die Herstellung eigener Gözleme nicht mehr leisten. „Das ist so krass zu sehen, wie die Diversität des Kleingewerbes abnimmt, weil die Preise steigen.» Allein darüber zu reden bedeute, eine politische Beziehung zur Nachbarschaft zu entwickeln. „Dann kriegen die Leute mit, linke Menschen machen was zu einem Thema, das uns gerade alle besorgt.»
Wenn es nach Julia ginge, sollten Aktivist*innen vor jeder Demo mit ihren Nachbar*innen und dem Späti um die Ecke reden. Ein zusätzlicher Trick, um den Besuch einer Demonstration niedrigschwelliger zu gestalten: gemeinsame Treffpunkte. In Neukölln kann man sich zur Anreise am Hermannplatz treffen. „Ich habe dann immer gesagt: Ich bin auch dort, dann sehen wir uns. Wenn man nicht weiß, wie Demos funktionieren und nicht sowieso schon fünf Leute kennt, hilft es, wenigstens ein bekanntes Gesicht zu sehen.»
In Lichtenberg scheint die Mobilisierung derweil gut zu funktionieren. Gerade was die Kiezversammlung am 6. November betrifft, haben Flyer- und Haustüraktionen schon ihre Wirkung erzielt. Ein älterer Mann freut sich, dass das Treffen im Hubertusbad stattfindet, das kenne er noch von früher. Ein Mann mit Fahrrad muss zwar eigentlich schnell zum Fahrradladen, präsentiert Kim aber trotzdem eine spontane Ideen für nachbarschaftliche Solidarität: Gemeinsam mit Gewerbeschein bei Metro Großeinkäufe machen. „Man muss den Kapitalismus ausnutzen, wie man kann.»
Es wird die erste Kiezversammlung in Lichtenberg sein – gerade weil das Konzept noch nicht etabliert ist, erwartet Ilja von PS Interessierte aus ganz unterschiedlichen Kreisen. Seinem Eindruck nach suchen die Menschen nach Orten, wo sie ihre Probleme besprechen können. „Und manchen ist es erst mal egal, ob das eine Veranstaltung vom Dritten Weg oder von einer anarchistischen Organisation ist.» Die Präsenz in den Kiezen hält er deshalb für unbedingt notwendig: „Wenn wir uns nicht organisieren, machen es die Rechten.»
Auch die junge Frau hat den Zettel, den Kim ihr in die Hand drückt, bereits bei sich im Hausflur hängen gesehen. „Ja das stimmt, das ist wichtig zu sehen, dass es viele betrifft», sagt sie zu der Idee, sich über die Folgen der Krise auszutauschen. „Kurzfristig kann man sich gegenseitig unterstützen», stimmt Kim ihr zu, „langfristig muss sich natürlich grundlegend etwas ändern.» Die junge Frau nickt. Die Einladung zur Kiezversammlung hat sie schon sorgfältig gefaltet und eingesteckt.
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