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- Handball-EM der Frauen 2022
Medaillentraum nach Albtraum
Nach einem Psychoterror-Skandal suchen deutsche Handballerinnen bei der EM Ablenkung
Dass Mia Zschocke am Samstag mit dem deutschen Handball-Nationalteam in die Europameisterschaft starten will, grenzt an ein kleines Wunder. Sie und ihre Teamkollegin Amelie Berger hatten mit ihrer fristlosen Kündigung beim ehemaligen deutschen Meister Borussia Dortmund eine Lawine losgetreten, in deren Folge mittlerweile mehr als 30 Handballerinnen davon berichteten, wie sie vom nun ehemaligen Dortmunder Trainer André Fuhr über Jahre hinweg psychisch terrorisiert worden waren.
Gleich mehrere Personen im Deutschen Handball-Bund (DHB) sollen teils schon vor Jahren von Beschwerden über Fuhr gewusst haben, doch der Verband trennte sich erst im Sommer von ihm als Nachwuchsnationaltrainer – als Zschocke und Berger an die Öffentlichkeit gegangen waren. Dass Zschocke dem DHB trotzdem als Nationalspielerin weiterhin zur Verfügung steht, ist ein Vertrauensbeweis, den viele andere wohl nicht mehr aufbringen würden.
Das gilt besonders, wenn man bedenkt, dass es fast zwei Monate dauerte und zudem einen so detaillierten wie erschreckenden Bericht im »Spiegel« brauchte, bis der Verband nach den Kündigungen seiner Spitzenspielerinnen mehr tat, als sich nur von Fuhr zu trennen. Erst in der vergangenen Woche kündigte der DHB die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission an, die klären soll, »welche Umfelder gewaltanfällig sind und wie Strukturen im Sinne einer bestmöglichen Prävention und eines Frühwarnsystems weiterentwickelt werden können«. Im Klartext soll das wohl heißen: Was lief schief? Und wie kann eine Wiederholung verhindert werden?
Fuhr soll an seinen Bundesligastationen in Dortmund sowie zuvor in Metzingen und Blomberg Spielerinnen 16 Jahre lang nach deren Aussagen im »Spiegel« auf verschiedenste Weise drangsaliert haben: Die Vorwürfe reichen von ständigen Beschimpfungen und Mobbing über das Verbot von Toilettenpausen im Training, Überbeanspruchung von Verletzten bis zu einer Überwachung von Freizeitaktivitäten und sexueller Belästigung. Offenbar wurde er dabei immer wieder auch von Vereinsoffiziellen geschützt, wenn sich Spielerinnern beschwerten und um Hilfe baten.
Mia Zschocke spielt mittlerweile in Norwegen, Berger in Bensheim. Beide berichten von viel angenehmeren Trainingsbedingungen dort. Obwohl der Kosmos im Profi-Frauenhandball recht überschaubar ist und andere ehemalige Spielerinnen offenbar schon zuvor bei ihren neuen Vereinen und beim DHB von Fuhrs Methoden berichteten, soll der Dachverband untätig geblieben sein.
Ein Vorwurf, der vor allem Sportvorstand Axel Kromer stark belastet, hatte er doch Fuhr nicht nur zum Bundestrainer der Juniorinnen befördert. Kromer soll später auch Hinweisen auf dessen Fehlverhalten nur halbherzig nachgegangen sein. Trotzdem reiste er wie üblich auch vor der aktuellen EM ins Trainingslager zum Team. Vielleicht hätte er darauf diesmal lieber verzichten und sich auf die eigene Fehleranalyse fokussieren sollen. Dass der DHB in seinen Verlautbarungen Verantwortung übernehmen will und eine „Kultur des Hinsehens» fördere, muss in den Ohren von Zschocke, Berger und vieler anderer Opfer jedenfalls wie blanker Hohn geklungen haben.
Die Umstände für die an diesem Freitag startende Europameisterschaft in Slowenien, Nordmazedonien und Montenegro könnten also kaum schlechter sein aus deutscher Sicht. Dennoch scheint es Bundestrainer Markus Gaugisch hinbekommen zu haben, mit einer Mischung aus offenen Gesprächsangeboten und einer Trainingsstimmung voller Freude und Unterstützung eine gute Teamchemie zu entwickeln. »Mia ist voll da, sie hat wieder Freude am Handball gefunden, ist superhappy in ihrem neuen Verein. Das hat sie sich auch absolut verdient. Da wollen wir als Mannschaft auch einen Safe Place darstellen, in dem sie sich wohlfühlt«, berichtete Kapitänin Emily Bölk jüngst aus dem EM-Trainingslager.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass außer Zschocke offenbar keine weiteren Betroffenen im EM-Kader stehen. Den anderen Spielerinnen um Bölk dürfte es leichterfallen, von Medaillenträumen zu sprechen, die nach den recht überzeugenden letzten Testspielen gegen Ungarn (31:20) und Rumänien (29:29) in dieser Woche auch nicht utopisch wirken. Zum Auftakt der Vorrunde trifft die deutsche Auswahl am Samstag auf Polen. Danach geht es in der Gruppe D gegen Co-Gastgeber Montenegro und zum Abschluss gegen den WM-Vierten Spanien. Sollte es die deutsche Auswahl wirklich erstmals seit 2008 bis ins Halbfinale schaffen, bliebe nur zu hoffen, dass der Erfolg die wohl viel wichtigere Aufarbeitung der Missbrauchsvorwürfe nicht überschattet.
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