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Gesundheitsgefahr auf der A100
Die entrückten Anschuldigungen an Klima-Aktivist*innen zeigen jene Militanz auf, mit der rechnen muss, wer sich mit fossilen Verhältnissen anlegt
Am Montag ereignete sich in Berlin ein Unfall, bei dem eine Radfahrerin von einem Betonmischer erfasst und eingeklemmt wurde. Entsandt wurde auch ein Spezialfahrzeug, das den Mischer zur Bergung hätte anheben sollen. Doch auf der Autobahn 100 stand der Wagen im Stau. Grund: Wegen einer Festklebeaktion der »Letzten Generation« reihten sich die Fahrzeuge. Weil die Autofahrer*innen dabei, wie gehabt, keine ausreichende Rettungsgasse bildeten, verspätete sich das Fahrzeug. Als es schließlich ankam, war die Frau bereits befreit. Am Freitag wurde dann, trotz ansonsten täglich in Deutschland sterbender Radfahrer*innen, in Medien bundesweit der Tod der Frau vermeldet. Das heuchlerische Wutgeheul indes, gleich am Montag aufgebrandet, ist vielleicht das Beste, was der Ökoprotesttruppe passieren konnte.
Bereits in den vergangenen Wochen hatten Festklebeaktionen an Gemälden die Klimaherrlichkeit des Establishments ans Fenster gelockt. Das funktionierte in etwa so, dass sich unzählige Kommentator*innen in diversen Medien bemüßigt sahen zu erklären, wie sehr doch die Aktivist*innen ihrem eigentlichen Anliegen schadeten. Das sei nämlich, Aufmerksamkeit auf die noch immer nicht eingedämmte Klimakatastrophe statt auf Formen legitimen Protests zu lenken. Nur: Dabei generierten sie selbst eben jene Aufmerksamkeit – nämlich die auf die Frage, welche Mittel zur Eindämmung der Klimakatastrophe eigentlich angemessen sind. Der wissenschaftliche Konsens jedenfalls besagt: die bisher ergriffenen nicht.
Und nun das: Klimaaktivist*innen protestieren gegen den so unendlich unvernünftigen Automobilverkehr, ein LKW mit Material für das nächste vollkommen verrückte, wachstumsgetriebene Bauprojekt fährt mal wieder eine Radfahrerin tot und Autofahrer*innen blockieren prompt mit ihrem alltäglich über unsere Straßen stolzierenden, den Habitus unserer Zeit wie kaum etwas Zweites symbolisierenden, atomisierten Trotzverhalten einen Rettungseinsatz.
Doch statt im Angesicht des mal wieder fröhlich und gemeinsam angerichteten Schadens nur für einen Moment innezuhalten, bricht sich ein Sturm aus rotzeblöden und kaum verhohlen schadenfrohen Kommentaren Bahn. Der erkennt die Schuld ausgerechnet bei der minimalen Einschränkung der »Freiheit«, jeden Tag auf öffentlich subventionierten Teerpisten vollkommen besinnungslos und ohne Rücksicht auf menschliche Verluste die endlichen Ressourcen des Planeten niederzubrennen. Unter Instrumentalisierung der schweren Verletzungen und des nun eingetretenen Todes der Radfahrerin forderten Politiker*innen, Meinungsjournalist*innen und Kommentarspalten einhellig die Verhängung jener empfindlichen Strafen, die sie längst auch ohne den Vorfall herbeisehnten.
Noch am Tag des Unfalls hatte übrigens die Gewerkschaft der Polizei, im Informationskrieg mal wieder durch Vor-Ort-Beteiligung im Vorteil, das Framing für die Berichterstattung vorgegeben. Wer Verkehrswege blockiere, hieß es da, nehme »bewusst in Kauf, dass Menschen in Not länger auf Hilfe von Polizei und Feuerwehr warten müssen«. So weit, so klar – könnte man denken. Doch gemeint waren mitnichten Autofahrer*innen. Gemeint waren diejenigen, die gegen eben diese pervertierte Form von Freiheit als Rücksichtslosigkeit protestieren. Die Aktivist*innen spielten »mit der Gesundheit der Bevölkerung«, man müsse sich »vom Märchen des harmlosen Protests verabschieden«.
Die Messlatte für die weiteren Einlassungen jedenfalls war gesetzt. Sogar der Justizminister schaffte es, die Vorzüge des »unabhängigen« Rechtsstaats zur Kenntlichkeit zu entstellen, indem er öffentlich von Gefängnisstrafen sprach. So legte er der Justiz keck die Berücksichtigung der Strafgelüste jenes Teils der Bevölkerung nahe, der sich an seine fossile Lebensweise klammert. All denjenigen jedoch, die in Sachen Klimakrise noch an die Selbstaufklärungskräfte der herrschenden Verhältnisse glaubten, wird in diesen Tagen ein eindrucksvolles Schauspiel zur Zerstreuung solch naiver Hoffnungen geboten.
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