Fossile Trickkiste

Hartnäckig hält sich die Erzählung, 100 Prozent Öko-Energie seien illusorisch für ein Industrieland wie Deutschland. Dahinter steckt meist eine falsche Rechnung

  • Jörg Staude
  • Lesedauer: 7 Min.
Je weniger Energie auf fossiler oder nuklearer Basis erzeugt wird und je mehr auf erneuerbarer, desto effizienter wird das ganze System.
Je weniger Energie auf fossiler oder nuklearer Basis erzeugt wird und je mehr auf erneuerbarer, desto effizienter wird das ganze System.

Wie sich die Energiewelt ändert, zeigt ein Blick zurück. Nur zehn Jahre ist es her, dass der damalige RWE-Chef die Nutzung von Solarenergie in Deutschland für so sinnvoll hielt, wie Ananas in Alaska zu züchten. Und vor noch weniger Jahren warnte Ex-Kanzlerin Angela Merkel beim Energieverband BDEW vor zu hohen Erwartungen mit Blick auf die Erneuerbaren. Heute ist im Schnitt jede zweite Kilowattstunde Strom erneuerbar. So platt wie früher gegen Öko-Energie zu Felde zu ziehen – das wirkt längst nicht mehr glaubwürdig. Also lassen sich die Lobbyisten neue Tricks einfallen.

Zuerst reden sie davon, wie nötig es doch sei, dass es in Zukunft eine umwelt- und klimafreundliche Energieversorgung gebe. Es sei aber – leider, leider – einfach nicht möglich, ein Industrieland wie Deutschland allein mit grüner Energie zu betreiben. Deswegen würden Kohle (noch eine ganze Zeit), Gas (als verlängerte »Brücke«) und Atom (auf unbestimmte Zeit) gebraucht.
Eines der wirkmächtigsten Argumente, dessen sich die Energiewendekritiker dabei bedienen, ist der Bezug auf den Primärenergieverbrauch. So behauptet beispielsweise »Welt«-Herausgeber Stefan Aust, es sei eine »Illusion« zu glauben, man könne ein Industrieland mit erneuerbaren Energien auf irgendeine Weise versorgen. Das begründete Aust jüngst in der Talkshow »Maischberger« geradezu prototypisch: Windenergie würde aktuell nur 3,5 Prozent der Primärenergie hergeben, sagte er. Im Juli 2021 hatte er schon mal über den Anteil der Windenergie sinniert. Da waren es nach seinen Worten übrigens erst 3,1 Prozent gewesen – nun, das war doch eine etwas alte Zahl.

Der Bezug auf die Primärenergie – genauer auf den Primärenergieverbrauch – ist auch bei anderen »Welt«-Experten sehr beliebt. Im Presseclub der ARD hatte Axel Bojanowski, »Chefreporter Wissenschaft« bei der »Welt«, bemerkt, die Erneuerbaren würden nach jahrzehntelangen Milliarden-Subventionen heute nur »etwas mehr als vier Prozent des Primärenergieverbrauchs decken«. Für Aust und noch mehr für Bojanowski gehört das Erneuerbaren-Bashing zur politischen DNA. Aber auch ein seriöser Wissenschaftler wie Manuel Frondel vom Wirtschaftsforschungsinstitut RWI wärmte dieser Tage im NDR die Zahl auf, die Erneuerbaren würden insgesamt nur 16 Prozent im Primärenergiemix abdecken – und das nach »Milliardensubventionen«.

Tendenziöse Absichten

Die 16 Prozent stimmen der Zahl nach. Warum dennoch hinter dem Bezug auf die Primärenergie eine klar tendenziöse Absicht steht, hätten alle drei in der »Welt« selbst nachlesen können. Denn nach Bojanowkis Ausfall dachte Daniel Wetzel, anerkannter Energie- und Wirtschaftsjournalist, in einem Beitrag darüber nach, was es mit dem »Primärenergieverbrauch« auf sich hat.
Wetzel bezeichnet die Primärenergie als das, was sie ist: die Menge des Energiezuflusses in die Volkswirtschaft durch Öl, Kohle, Gas, Elektrizität und so weiter.

Deswegen halten Energiewende-Fans statt des Primärenergieverbrauchs die Messgröße Endenergieverbrauch für aussagekräftiger, schreibt er. Denn in der Endenergie seien zum Beispiel die Umwandlungsverluste nicht enthalten, die bei der Verbrennung von Kohle oder Benzin entstehen. Seien erst einmal überall Elektromotoren eingeführt, so Wetzel weiter, verschwende die Volkswirtschaft deutlich weniger Primärenergie, etwa durch Wärmeverluste bei der Verbrennung im Motor. Der Endenergiebedarf sei daher geringer und die Ökostromziele seien leichter zu erreichen.

Weil Wetzel seinen Kollegen offensichtlich nicht zu nahe treten wollte und etwas verklausuliert formulierte, kommt hier eine leichter verständliche Erklärung: In den Primärenergieverbrauch fließt bei fossilen Energieträgern wie Öl, Kohle oder Gas die gesamte Energiemenge ein, die ins Kraftwerk oder in die Raffinerie kommt. Bilanziert wird also beispielsweise die Kohle aus dem Tagebau, die dann in den Kessel kommt, dort verbrannt wird und Dampf erzeugt, der dann wiederum über die Turbine den Generator antreibt. Dabei wird thermische Energie in mechanische und dann in elektrische Energie umwandelt.

Auf dem Weg geht einiges verloren. Wegen der Umwandlungsverluste braucht ein Kohlekraftwerk etwa drei Kilowattstunden Kohle-Energie, um am Ende eine Kilowattstunde Strom zu erzeugen. Anders ist das bei Wind, Sonne und auch bei der Wasserkraft: Die Primärquelle ihrer Energie ist keine Kohlegrube und kein Uranerz, sondern es ist letztlich eine kostenlose Naturkraft. In der Energiebilanzierung wurde deswegen entschieden, dass die Kilowattstunde, die Sonne und Wind ins Netz einspeisen, als »Primärenergieverbrauch« gilt.

Verschiebung der Proportionen

Das aber verschiebt die Proportionen gewaltig: Im Primärenergieverbrauch werden die drei Kilowattstunden Ausgangs-Kohleenergie gleich bilanziert wie eine Kilowattstunde Windstrom. Der von den Energiewendekritikern so gern genommene Maßstab des Primärenergieverbrauchs verzerrt also den realen Anteil der Erneuerbaren ins Unkenntliche. Der Öko-Anteil erscheint klein, denn im Primärverbrauch steckt quasi die ganze Energieverschwendung der konventionellen Kraftwerkstechnik, aber auch, wie Wetzel betont, der fossilen Verbrennertechnik in Fahrzeugen.

Mit dem Primärenergie-Trick wird die alte Energiewelt auf die Höhe der neuen gehoben und gegen diese verwandt – wenn das nicht ein gewieftes Manöver ist, was dann?

Wer das nicht glauben kann, für den kommt hier die regierungsoffizielle Erklärung des Umweltbundesamtes. Statistisch wird, erklärt das UBA, der Primärenergieverbrauch über das Wirkungsgradprinzip ermittelt. Dabei werden die Einsatzmengen der in Feuerungsanlagen verbrannten Energieträger – fossil und auch biogen – mit ihrem Heizwert multipliziert. Für Strom aus Wind, Wasserkraft oder Photovoltaik werde dabei ein Wirkungsgrad von 100 Prozent, für die Geothermie von zehn Prozent und für die Kernenergie von 33 Prozent angenommen. Und 100 Prozent angenommener Wirkungsgrad bedeuten eben: Eine Kilowattstunde Primärenergie ist bei der Windkraft rechnerisch gleich eine Kilowattstunde Nutzenergie.

Für die erneuerbaren Energien wird so, schreibt das UBA weiter, ein erheblich niedrigerer Primärenergieverbrauch errechnet als für fossil-nukleare Brennstoffe. Dies habe in Zeiten der Energiewende »methodenbedingte Verzerrungen« zur Folge: Der Primärenergieverbrauch sinke mit steigender Substitution von fossil-nuklearen Brennstoffen durch Erneuerbare überproportional. Das ist die gute Nachricht: Je weniger Energie wir auf fossiler oder nuklearer Basis erzeugen und je mehr auf erneuerbarer, desto effizienter wird das ganze System. Kohle- und Atomausstieg erhöhen quasi automatisch die Effizienz, sofern die fossile Energie eben vor allem durch Wind und Sonne ersetzt wird.

Wie sehr sich Primär- und Endenergieverbrauch unterscheiden, zeigen die Daten. 2020 lag der Endenergieverbrauch in Deutschland bei rund 2330 Terawattstunden, der Primärenergieverbrauch dagegen bei 3200 Terawattstunden, also um rund ein Drittel höher. Kommen dann noch reale Energie-Einsparungen hinzu, steigt der Anteil der Erneuerbaren weiter. Es ist klar, dass eine zu 100 Prozent erneuerbare Versorgung nur möglich ist, wenn auch der Endenergie-Einsatz insgesamt deutlich sinkt. Ein Weiter-so in Grün geht nicht.

Whataboutism gegen die Energiewende

An der Stelle werden die Energiewende-Kritiker wieder ganz wach: Dass der Primärenergieverbrauch die wahren Verhältnisse zu Lasten der Öko-Energien verzerrt, lässt sich schwer in Abrede stellen. Also argumentieren ihre Gegner ab jetzt im Stile des sogenannten Whataboutism, also mit nicht zum Thema gehörenden Gegenfragen wie: Wenn wir so viel Wind und Sonne wollten, brauchen wir doch auch Speicher? Was wird, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, mit der Blackout-Gefahr? Und wir brauchen doch auch, wenn alles elektrifiziert wird, mehr Strom? Soll der allesamt aus Wind und Sonne kommen? Ihr Ökos wollt doch zugleich massenhaft Energie einsparen – wie kann das denn alles zusammenpassen?

Für all diese Probleme gibt es seit Langem auch Lösungen auf erneuerbarer Basis. Die schwankende Erzeugung der Erneuerbaren gleicht man durch Sektorenkopplung, Flexibilitätsanreize und auch Speicher aus, die es natürlich auch braucht. Das ist nicht neu, ist vielfach fundiert gerechnet und zukünftig ein gutes Geschäft. Dass dieser Wandel nicht einfach ist, viel Geld kostet und Deutschland trotz eines Anteils von 50 Prozent Öko beim Strom bei der Energiewende noch nicht wirklich weit gekommen ist – wer will das in Abrede stellen?

Um eine differenzierte Sicht geht es Aust und Co aber nicht. Ihre Erzählung will von vornherein auf die Behauptung hinaus, ein zu hundert Prozent erneuerbares System könne Deutschland nicht sicher mit Energie versorgen. Das ist der Grund, weshalb sie den Trick mit dem Primärenergieverbrauch so lieben. Doch den müssen die Erneuerbaren eben gar nicht decken. Dass hier immer wieder ein falscher, diskreditierender Maßstab angelegt wird, und zwar mit voller Absicht, das sollte man den Gegnern der Energiewende nicht länger durchgehen lassen.
Und die anderen Punkte auch nicht. Aber das ist eine andere Geschichte.

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