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Der Mensch muss krank sein
Heruntergekühlter Welthass, Formulierungslust und erstaunliche Verletzlichkeit: Die Tagebücher des Schriftstellers Ror Wolf
Wenn man Ror Wolfs vielgestaltiges Werk, das neben Romanen, Kurzprosa, Gedichten, Hörspielen ebenfalls eine sechsbändige »Enzyklopädie für unerschrockene Leser« und jetzt auch noch Tagebücher umfasst, auf einen Nenner bringen wollte, dann wäre das wohl der beharrliche Versuch, die eingespielten ästhetischen Konventionen zu durchbrechen. Seine Romane haben keinen nennenswerten Plot. Seine Erzählungen brechen immer wieder nach einer vielversprechenden Exposition ab, verweigern schlicht die Arbeit, seine »Enzyklopädie« verspricht zwar mit großen Worten Ratschlag und Unterweisung, aber Raoul Tranchirer, Ror Wolfs offenbar aus dem tiefsten 19. Jahrhundert stammendes Alter ego verwickelt sich in Widersprüche. Sie läuft leer, weiß neben akademischen Nullphrasen und Allerweltsweisheiten nichts Substanzielles beizusteuern, aber dafür wundervollen Irr- und Aberwitz. Und die Gedichte sind zwar gereimt und metrisch streng gebaut, aber sein Dichterkollege Robert Gernhardt bemerkte auch hier zu Recht die anarchische Poetik. »Kein Zweifel, da hat nicht nur er (der Wolf), da hat auch es (das Sprachpotenzial) gedichtet.«
Wolf lässt es laufen, er überlässt sich den Worten, er improvisiert, das Kalkül kommt erst später ins Spiel. Und er weiß um die Gewalttätigkeit und Inhumanität der Worte wie um ihre musikalische Schönheit, ihr Glücks- und utopisches Potenzial – und so kommt in seinem Werk immer beides, oft genug unmittelbar nebeneinander zum Stehen. Schon mit seinen ersten Gedichten und Prosaarbeiten aus den 60er Jahren, »mein famili«, »Fortsetzung des Berichts« und »Pilzer und Pelzer«, hatte er eine Art Universalpoesie im Sinn: »Spiel, Heckmeck, Hokuspokus, Burleske, Spaß; Spaß, der freilich an jeder Stelle umschlagen kann in Entsetzen. Das soll weder in den Klappkasten der schöngeistigen noch der engagierten Literatur passen.«
Und so muss man auch seine postum erschienenen Tagebücher lesen: als dialektische Parodie, die wie in seiner »Enzyklopädie« oder den grandiosen Fußball-Collagen seinen Gegenstand, in dem Fall das eigene Leben, zwar abkonterfeit und damit aufhebt, es aber gleichzeitig immer wieder ironisch infrage stellt und poetisch irrlichtern lässt. So macht der Dichter sich am 24. Oktober 1984 auf nach Viersen »mit der muffigen schmierigen klebrigen Bundesbahn, ein elendes Vorwärtsschieben mit einem Wurstbrot, das wie Eisenbahn schmeckt. – Adelheid Limbach holt mich ab zur geplanten Lesung: Es sind, grob geschätzt, sieben Personen da: ein junger Mann, eine Dame der Lesegesellschaft, ein Angestellter des Kulturamts, eine Pressedame, AL mit Partner und ich. Wir fangen gar nicht erst an zu lesen, wir machen Schluß und gehen sofort einen trinken. – AL erzählt noch einmal die Geschichte von der alten Ärztin, die, Anfang der 70er Jahre, nachdem sie in einem meiner Bücher geblättert hat, gesagt habe: ein Mensch, der so etwas schreibt, muß krank sein.«
Es ist eine Mischung aus heruntergekühltem Welthass, ironischer Selbstbespiegelung, Formulierungslust und einer erstaunlichen Verletzlichkeit, die diesen kurzen, selten wirklich erzählenden, meistens pointiert aphoristischen Textsplittern ihre angenehme Verve verleihen. Sie macht »Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie« zu einem dieser Bücher, aus denen man entschieden zu viel zitiert.
Dabei hatten die Freunde und Kenner Ror Wolfs eigentlich eine Autobiografie im Nachlass erwartet, bedauert Herausgeber Klaus Schöffling im Nachwort, als habe man es hier nur mit einer Vorstufe zum eigentlichen Buch zu tun. Man kann aber ganz beruhigt sein, dieses Journal der Jahre 1966 bis 1996, in dem der Autor vom jungen Suhrkamp-Experimentalautor zum gefeierten Radio-Collagisten, Fußball-Poeten und schließlich zum writer’s writer avanciert, enthält bereits alles, was es zu einem veritablen Werk Ror Wolfs braucht.
Zwei Motivstränge lassen sich ausmachen, die diesen disparaten Aufzeichnungen eine gewisse Kohärenz verleihen, aber dahinter verbirgt sich kein ästhetisches Kalkül, sondern nur das profane Drecksleben, das eine Schmutzspur der Ärgernisse in Wolfs Haushaltsbüchern hinterlässt. Da ist zum einen die Wohnungssituation, die stets und ständig zu Beschwerden Anlass gibt. Man sollte eigentlich meinen, das Ehepaar wechselt ihr Heim, um sich zu verbessern, aber es kommt eigentlich immer nur schlimmer. In einer obsessiven Lust, sich ins Unglück zu stürzen, treffen sie regelmäßig die falschen Entscheidungen, damit Wolf sich dann wieder in vollmundigem Ekel über dieses erbärmliche Hausen auskübeln kann.
Im April 1983 ziehen die beiden von Zornheim nach Wiesbaden, und für einen Moment keimt Hoffnung auf, noch einmal davongekommen zu sein. »Ein kleiner Blick in den Garten: das hätten wir hinter uns: Diese riesige Unbehaglichkeit und dieses Wachsen, dieses Herauswachsen aus der Erde, diese Aufforderungen zum Mähen und Rupfen und Abschneiden, und dieses ganze ausgespuckte Leben in Z, baumlos, luftlos, ladenlos.« Aber schon im Mai geht alles wieder ganz herrlich den Bach runter. »Wir haben eine unbewohnbare Wohnung bezogen. Es hat keinen Sinn, hier noch etwas hineinzustecken. Gestank. Krach. Entsetzen … Keine Vorhänge aufmachen. Keine Teppiche auslegen. Nichts mit dem Bad machen. Die Wohnung stinkt wie ein Pissoir. Maklertelefonate. Wohnungsbesichtigungen. Schlamp durchsucht die Mülltonnen, um die Lebensgewohnheiten seiner Leute kennenzulernen. Jetzt stinkt es wie in einer Räucherkammer.«
Aber er hätte es eigentlich wissen müssen, schon im November 1978 hatte er seine ganze Resignation zu Protokoll gegeben. »Über Bohrungen zu reden, lohnt sich nicht mehr, es wird immer gebohrt. Es wird immer gekratzt und gespachtelt, gehämmert, gesägt undsoweiter. Auch ein Brummen nachts, eine Art tiefes Dröhnen.« Und sowieso »knackt« ewig die Heizung.
Noch mehr Verdruss als das Wohnen bereitet ihm nur das Literaturgeschäft. Vor allem mit seinem langjährigen Hausverlag Suhrkamp verbindet ihn eine Hassliebe, die sich mit der Zeit zu einer richtigen Antipathie auswächst. Er ist unzufrieden mit den Verkäufen, fühlt sich nicht genug gewürdigt, vor allem als der ihm herzlich zugetane Lektor Günther Busch den Verlag verlässt. Hinzu kommt eine sich verfestigende Abneigung gegenüber dem Verleger und seiner Erfüllungsgehilfin Elisabeth Borchers. »Der Clou des Abends«, schreibt er anlässlich des Suhrkamp-Empfangs auf der Frankfurter Buchmesse 1978, »Frau Borchers läßt mich von Kosler hinaufbestellen zu einem Zukunftsgespräch und rät mir, nicht so zu schreiben, wie ich schreibe, sondern von nun an so und so zu schreiben.«
Es ist aber noch mehr als verletzende Impertinenz, ihm geht die charakterliche Disposition Siegfried Unselds gegen den Strich, der »seiner ganzen Natur nach zu den Gewinnern« gehört, »und zwar zu der Sorte von Gewinnern, die gänzlich unfähig sind, sich einen Begriff zu machen von der Lage der partiell Erfolglosen. Angst hält er für Feigheit. Der Mißerfolg stößt ihn ab. Er hält Mißerfolg für Schwäche, für Untüchtigkeit, für eine unanständige Krankheit.« Als er das niederschreibt, im Juni 1984, da hat er Suhrkamp bereits vier Jahre den Rücken gekehrt. Probleme hat er aber auch mit den nachfolgenden Verlagen Atrium, Haffmans, der Frankfurter Verlagsanstalt. Immerhin, am Ende bahnt sich ein Geschäftsverhältnis mit Schöffling an, das ganz gedeihlich gewesen sein muss, zumindest hat es bis zu seinem Tod 2020 gehalten.
Trotz dieser ständigen Malaisen schreibt er weiterhin Buch um Buch. Es ist für ihn »unmöglich, endgültig, also mit sämtlichen Konsequenzen, mit diesem albernen Literaturspiel aufzuhören«. Obwohl die Verkaufszahlen sinken und er von den Buchverkäufen kaum seine Subsistenz erwirtschaften kann, dafür sorgen jahrzehntelang vor allem seine gut dotierten Aufträge beim Rundfunk. Er kann nicht anders. »Das Wichtigste ist, daß sich einer immer wieder gegen alle Vernunft überreden kann, weiterzuschreiben.« Vielleicht als eine Art Notwehr, um mit den Anfeindungen und Zurückweisungen des Lebens doch irgendwie fertigzuwerden.
Einsamkeit scheint denn auch eine seiner Grunderfahrungen gewesen zu sein, von seinem Vater früh eingeübt. »Er hat mich knochenhart gemacht. Er hat mich im Alter von etwa einem Jahr, nachts, als ich geschrien habe, aus dem Bett gerissen, ich erinnere mich ganz gut, und weit in die Ferne vor die Küchentür gesetzt. Dort habe ich aufgehört zu schreien. Ich saß dann, wie man mir mehrfach bestätigt hat, ganz stumm da. Von diesem Moment an war klar: ich muß mich in dieser Kälte und Dunkelheit allein zurechtfinden.« Eine Weile hat er ihr noch Promiskuität und Suff, später immer entschiedener das Werk entgegenzusetzen gewusst.
Ror Wolf: Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie. Tagebuch 1966–1996. Herausgegeben von Klaus Schöffling. Schöffling & Co., 344 S., geb., 32 €.
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