Streikwaren statt Nudeln

Seit vier Wochen läuft in Riesa ein Arbeitskampf um höhere Löhne und Ost-West-Gerechtigkeit

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 5 Min.

Spirelli, Spaghetti und Makkaroni aus Riesa sind in Ostdeutschland äußerst populär. In der Mitteldeutschen Markenstudie einer MDR-Tochter wurde Teigwaren Riesa kürzlich als beste Marke im Segment Getreidewaren ausgezeichnet. Doch Liebhaber der sächsischen Nudeln schauen derzeit in immer mehr Märkten in leere Regale. Der Grund sind nicht etwaige Lieferengpässe bei Weizen oder Eiern, sondern ein erbitterter Arbeitskampf, der bereits vier Wochen andauert und dafür sorgt, dass das Unternehmen zahlreiche Großaufträge absagen musste und die Lagerbestände aufgebraucht sind.

Gestritten wird für Löhne, die sich halbwegs vom Mindestlohn abheben. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) verlangt eine Lohnerhöhung um zwei Euro in zwei Schritten bis 2023. Derzeit verdienen nach ihren Angaben Mitarbeiter im Bereich Verpackung, die in drei Schichten arbeiten, ganze 12,51 Euro pro Stunde. Der gesetzliche Mindestlohn liegt seit 1. Oktober bei zwölf Euro. Anfänger in der untersten Entgeltgruppe erhalten laut NGG noch weniger. Die Beschäftigten lieferten »gute Arbeit für ein gutes Produkt ab«, sagte der zuständige Gewerkschaftssekretär Olaf Klenke: »Sie wollen von ihrem Lohn gut leben können und später eine armutsfeste Rente aufbauen.« Das Unternehmen bietet dagegen nur eine Anhebung um 1,20 Euro in zwei Stufen bis 2024 sowie einmalig 400 Euro. Das lehnt die Gewerkschaft als zu niedrig ab. DGB-Landeschef Markus Schlimbach sprach am vergangenen Wochenende auf einem Landesparteitag der sächsischen Linken von einer »Frechheit« und mahnte: »Da muss sich der Arbeitgeber bewegen.« Der Parteitag hatte eine Solidaritätsadresse nach Riesa verabschiedet. Auf einem Banner mit dem Logo des Unternehmens war statt »Teigwaren« der Begriff »Streikwaren« zu lesen.

In dem Konflikt geht es nicht zuletzt um die Verringerung der noch immer bestehenden Kluft zwischen Löhnen in Ost- und Westdeutschland. Die Teigwaren Riesa GmbH ist eine Tochterfirma von Alb-Gold, einem Familienunternehmen aus Trochtelfingen mit zwei Werken in Baden-Württemberg. Dort verdienen Mitarbeiter mehrere hundert Euro im Monat mehr und erhalten auch höhere Zuschläge, etwa für Nachtarbeit. In einer Petition anlässlich des jetzigen Arbeitskampfes heißt es: »Über 30 Jahre nach der deutschen Einheit müssen wir endlich Lohngerechtigkeit herstellen.«

Der Forderung soll an diesem 9. November mit einer symbolträchtigen Aktion in Berlin Nachdruck verliehen werden. Bei einer Kundgebung am Brandenburger Tor wollen Riesaer Beschäftigte am 33. Jahrestag der Maueröffnung fordern, endlich die »Niedrig-Lohnmauer« einzureißen. Auch Beschäftigte des Essensanbieters Lieferando, der ebenfalls Niedriglöhne zahlt, sollen zu Wort kommen. Angekündigt sind die Teilnahme mehrerer Bundestagsabgeordneter und ein Grußwort von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD).

Der Protest in der Bundeshauptstadt dürfte dem Lohnkonflikt wachsende und auch überregionale Aufmerksamkeit verschaffen; wie er sich auf die Gespräche mit der Unternehmensleitung auswirkt, bleibt abzuwarten. Nach Besuchen von Abgeordneten etwa der Linken in Riesa, darunter Bundestagsfraktionschef Dietmar Bartsch, verwahrte sich diese gegen Versuche der Gewerkschaft, politischen Druck für die Verhandlungen zu schaffen; dies sei ein »Eingriff in die Tarifautonomie«, zitierte die »Sächsische Zeitung« einen Manager. Generell zeigt sich die Geschäftsführung bisher äußerst hartleibig. In fünf Verhandlungsrunden gab es keinerlei Zugeständnisse, vielmehr wurde zuletzt mit »unternehmerischen Schritten« gedroht, ohne das freilich näher zu erläutern.

Den rund 140 Mitarbeitern im Riesaer Werk wiederum verlangt der Arbeitskampf einiges ab, auch in finanzieller Hinsicht: Das Streikgeld liegt noch deutlich unter dem ohnehin niedrigen Lohn. Die Gewerkschaft hat deshalb jetzt einen Solidaritätsfonds eingerichtet. Allerdings ist die Belegschaft mittlerweile kampferprobt. Im Jahr 2018 gründete sich in der »Nudelbude«, wie das Werk von den Beschäftigten genannt wird, ein Betriebsrat, der anschließend mithilfe mehrerer Warnstreiks zunächst im Mai 2019 einen Manteltarifvertrag durchsetzte und später auch eine Einigung bei Löhnen und Gehältern erreichte. Die Situation wurde jedoch nicht gerade erleichtert durch den Umstand, dass es in den beiden Werken im Westen weder Betriebsrat noch Tarifvertrag gibt.

Die damaligen Kampfaktionen sorgten überregional für Schlagzeilen. Zum einen war die Nahrungsgüterbranche – im Unterschied etwa zur Metall- und Elektroindustrie – zuvor lange Zeit nicht durch großen Widerstandsgeist aufgefallen. Zum anderen hatten sich viele Beschäftigte in Ostdeutschland, geprägt durch die hohe Arbeitslosigkeit der 1990er Jahre, mit geringeren Löhnen und schlechteren Arbeitsbedingungen zufriedengegeben. Streiks wie in Riesa wurden als Ausdruck einer neuen Kampfbereitschaft in Ostdeutschland gedeutet. Diese wird in der jetzigen Auseinandersetzung nun erneut unter Beweis gestellt.

Und deren Folgen sind für das Unternehmen drastisch. Durch den Streik ruht die Produktion in Riesa seit Wochen, es drohen erhebliche Einnahmeverluste und Vertragsstrafen wegen nicht erfüllter Lieferverträge. Die Geschäftsleitung beziffert die Kosten für das Unternehmen auf eine halbe bis dreiviertel Million Euro pro Woche. Die Gewerkschaft rechnet vor, dass die von ihr geforderte Anhebung der Löhne 60 000 Euro kosten würde. Mit der »Basta-Politik« der Geschäftsleitung werde also mehr Geld »verbrannt«, als die Lohnerhöhung kosten würde, sagt NGG-Sekretär Klenke und mutmaßt, das Motiv für deren Ablehnung könne ein anderes sein: eine »machtpolitische Entscheidung, die Beschäftigten weiter im Niedriglohn zu halten«.

Die Gewerkschaft erklärte, die Riesaer Nudelwerker stünden in Ostdeutschland »stellvertretend für viele, die kaum mehr als den Mindestlohn verdienen«. In der Region erhalte fast jeder dritte Beschäftigte einen Lohn unterhalb der Niedriglohnschwelle. 2021 habe diese für Vollzeitbeschäftigte bei monatlich 2344 Euro gelegen. Bei einer 40-Stunden-Woche entspreche das einem Stundenlohn von 13,50 Euro. Von der Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro ab 1. Oktober waren in einigen Regionen Ostdeutschlands vier von zehn Beschäftigten betroffen. Sachsens DGB-Landeschef Schlimbach sagte, Sachsen komme langsam los davon, ein Niedriglohnland zu sein – sei aber nun ein »Mindestlohnland«. Von guten Löhnen sind viele Beschäftigte weiterhin weit entfernt.

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