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Anklage und Utopie und Feuerlöscher: Das war das Jazzfest Berlin 2022

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 11 Min.
Komplex und tiefsinnig: Matana Roberts
Komplex und tiefsinnig: Matana Roberts

Auf der Großen Bühne im Haus der Berliner Festspiele sind Feuerlöscher der Firma Minimax auf Podesten aufgebaut. Auf der linken Seite stehen diagonal sieben davon, auf der rechten acht. Einige Minuten, nachdem das Publikum im ausverkauften Saal Platz genommen hat, kommen fünfzehn Personen auf die Bühne und stellen sich hinter jeweils einen der Feuerlöscher. Wieder vergeht ein bisschen Zeit, bis der Dirigent auf die Bühne tritt – ein älterer, schlaksiger Herr im braunen Anzug. Er wartet etwas, deutet auf die linke Bühnenhälfte und gibt dann das Startsignal: Und dann sprüht der Schaum aus den Feuerlöschern auf den Boden, bis der Dirigent ein Stoppzeichen gibt. Längere Pause. Dann wendet er sich der rechten Bühnenhälfte zu; gleiches Ritual. Es sind Feuerlöscher eines anderen Typs, die weite Teile der Bühne in einen dichten Nebel tauchen.

So geht es hin und her, alles zischt, ein Mix aus Schaum und Kohlendioxid. Schließlich kommt es zum großen Countdown und alle Feuerlöscher versprühen gleichzeitig ihren Schaum und ihren Nebel, bis die Geräte endgültig leer sind. Ruhe. Applaus. Und eine eckige Verbeugung des Dirigenten. »MM schäumend – Ouvertüre für Handfeuerlöscher« heißt das knapp zehnminütige szenisch-konzertante Stück des Klangforschers Sven-Åke Johansson, mit dem der Freitagabend beim Jazzfest Berlin begann. Das Jazzfest hat Johansson, der seit 1968 in Westberlin lebt und zu den Pionieren des europäischen Freejazz, der freien Improvisation und der mitunter dadaistischen Performance- und Konzeptkunst zählt, einen Schwerpunkt gewidmet. Es ist schön, diesen alten und gleichzeitig sehr lebendigen, schalkhaften und wenn nötig sehr ernsten Gentleman auf der Bühne in verschiedenen Besetzungen agieren zu sehen.

Die Künstlerische Leiterin des Jazzfests, Nadin Deventer, hat nach zwei pandemiebedingt hybriden Festivaljahren ein beachtliches Tableau künstlerischer Begegnungen zusammengestellt: Jung und Alt, Tradition und Erneuerung, Kontinuität und Bruch, und alles im Zeichen der Vielheit unterschiedlichster Kulturen. Deventer nennt es den »dialektischen Fluss einer Strömung, die schon immer von Migration, Veränderung und Dialog geprägt war«. Zu Beginn ihrer Tätigkeit als Chefin des renommierten Festivals sah sich Deventer vielen unfeinen und meist misogynen Anfeindungen (zu jung, zu Frau) ausgesetzt. Mit dem wagemutigen und sehr gelungenen diesjährigen Jazzfest, das entspannt und ohne die mittlerweile fast zur Regel gewordenen identitätspolitischen Verrenkungen erfreulich offen die Vielheit moderner Kulturen präsentiert, dürfte sie ihren patriarchalen Gegnern fürs Erste das Maul gestopft haben.

Später am Freitagabend versöhnt sich das Jazzfest Berlin dann mit einem anderen Urgestein der Freejazz-Szene: Peter Brötzmann, der 1968 schon einmal zum Berliner Jazzfest eingeladen, aber auch gleich wieder ausgeladen worden war – weil er sich weigerte, auf der Bühne einen Anzug zu tragen, wie es die Veranstalter damals vorschrieben. Im Gespräch nach seinem Auftritt beschreibt er das damalige Jazzfest als eine Art Entertainment-Veranstaltung, bei der der Regierende Bürgermeister und seine Frau in Abendkleidung herausgeputzt in der ersten Reihe saßen und sich die Westberliner Bourgeoisie bestens unterhalten ließ. Eine Gegenbewegung war nötig, eine dringliche Musik, die eine andere Gesellschaft wollte und dem feinen Dinner-Jazz ihre gewaltigen, wilden Bläserkaskaden entgegenblies. Denn »eine brutale Gesellschaft provoziert natürlich eine brutale Musik«.

Nun könnte man sich natürlich fragen, was es bedeutet, wenn der altersweise, aber immer noch wunderbar trotzige und zornige Brötzmann 2022 im schicken Tweetjacket auf der großen Bühne des Berliner Jazzfests steht – ist die Gesellschaft heute weniger »brutal«? Wohl kaum. Ist es der etablierten Kultur gelungen, die radikaleren Kräfte des Jazz zu vereinnahmen und zu zähmen? Da kennt man Brötzmann schlecht: Zusammen mit dem marokkanischen Oud- und Gimbri-Meister Majid Bekkas und dem US-amerikanischen Schlagzeuger Hamid Drake erzeugt Brötzmann auf Tenorsaxofon und Tarógató immer noch wütende Klangkaskaden, die das Höllenfeuer des Kapitalismus evozieren – und gleichzeitig formuliert Brötzmann in eher balladesken Momenten eine Utopie, die zu beschreiben ohne den Begriff »Schönheit« nicht möglich ist:

»Nun muss sich Alles, Alles wenden«, wie es im Franz-Schubert-Lied »Frühlingsglaube« mit dem Text von Ludwig Uhland heißt. Kaum ein anderer Musiker unserer Zeit vermag es so wie Peter Brötzmann, Anklage und Utopie zu einer kongruenten musikalischen Position zu vereinen. Und wenn dann Hamid Drake (dessen großartiges Schlagzeugspiel gerade in den stilleren Momenten mitunter etwas zu sehr in den Vordergrund drängt) unnachahmlich Gas gibt und Majid Bekkas sich wie bei einem Gnawa-Ritual in Trance spielt und tanzt und Brötzmann völlig losgelöst sein Saxofon bläst, dann bringt dieses Trio den Großen Saal zum Leuchten und die Bühne zum Schweben – ein ganz großer Moment dieses Jazzfests. Peter Brötzmann wurde vor dem Auftritt mit dem Ehrenpreis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet – endlich!

Nicht alles bei diesem Festival ist gelungen – das wäre ja auch absurd. Das Konzept »Playing the Haus« mit verschiedenen Bands an unterschiedlichen Spielorten ist eine gute Idee, leidet allerdings zum einen an Spielorten wie dem akustisch und atmosphärisch ungeeigneten Foyer, wo sich das italienische Duo Silvia Tarozzi & Deborah Walker mit Improvisationen über Arbeiterinnen- und Partisanenlieder aus der Emilia Romagna müht, zum anderen auch an den Musiker*innen selbst: Die im Vorfeld sehr gehypte französische Umlaut Big Band spielt so brav, wie die jungen Musiker:innen in ihren Auszügen auch aussehen – »da fehlt dann doch das Heroin«, witzelt ein Freund. Denzler/Grip/Johansson spielten eine zwar gekonnte Triomusik, über die die Entwicklung und die Zeit jedoch irgendwie hinweggegangen ist – diese Musik kann man sich eher an einem Abend in einem gepflegten Jazzclub vorstellen. Sehr schön dagegen das Storytelling-Projekt »Shadows of Forgotten Ancestors« der ukrainischen Musikerinnen Anna Antypova und Maryana Golovchenko mit Bildmaterial des berühmten gleichnamigen, 1965 entstandenen Films des armenisch-ukrainischen Filmemachers Sergei Paradschanow.

Und dann kam der Samstagabend mit dem »Dialectic Soul« des südafrikanischen Schlagzeugers, Komponisten, Wissenschaftlers und Pädagogen Asher Gamedze. »Dialectic Soul« ist auch der Titel seines Debütalbums von 2020. Ich würde mich jederzeit auf den Schreibtisch von ACT, ECM und wie sie alle heißen, stellen und verkünden: Das ist eines der wichtigsten und besten Alben der letzten zehn Jahre, nicht nur in der Jazzmusik!

Es geht um Kolonialismus, Kapitalismus und um Widerstand, Gamedze beruft sich in Interviews ausdrücklich auf Hegel und Marx – wobei er darauf hinweist, dass die Entwicklung des Konzepts der Dialektik »in der europäischen Philosophie sehr eurozentristisch und rassistisch« ist und auch Marx von einem Weltbild ausging, »in dem Europa als Inbegriff des Fortschritts gilt und das keinen Sinn für die historische Dynamik anderer Gesellschaften hat«. Gamedze verbindet die Frage der Dialektik mit der Vorstellung der Seele – »Soul« hat ja eine doppelte Bedeutung, eben auch als ein musikalisches Genre der afroamerikanischen Musik der 1950er bis 1970er Jahre. Asher Gamedze versteht »Soul als eine bestimmte Art und Weise, Musik zu spielen und zu erleben, die viel umfassender ist als das Genre« – Bewegung und Wandel. »Die dialektische Seele ist also die Seele, die immer in Bewegung ist, die immer nach vorne drängt und das Neue sucht. Es handelt sich um ein spekulatives Konzept.«

Das hört sich vielleicht ein wenig verkopft und gewollt an – die Musik von Asher Gamedze, Thembinkosi Mavimbela (Bass), Buddy Wells (Tenorsaxofon) und Robin Kock (Trompete) ist aber von enormer Sinnlichkeit. Ein ebenso lässiges wie gekonntes, frei swingendes Schlagzeugspiel, das die autonome Bewegung Afrikas symbolisiert, die Bläser reflektieren die unsagbare Gewalt der Kolonialisierung und der Apartheid. Und dann erleben wir, wie die Band innehält – das kennen wir sonst nur vom Freiheitskämpfer Beethoven, wahre Dialektiker sind ja nicht pausenlos am »Senden« und wissen keineswegs immer Bescheid, sondern sie benötigen auch mal Zeit zum Nachdenken: Sind wir noch auf dem richtigen Weg? Sind unsere Fragen noch die richtigen?

Der Bassist entwickelt solo aus einer simplen, fünftönigen Figur eine tiefe, zunächst sehr bedächtige, dann immer weiter ausgreifende Reflexion, bis die anderen Musiker einstimmen und das Quartett zu einer die ganze Welt umspannenden Improvisation über die südafrikanischen Widerstands- und Freiheitshymne »Hallelujah, Amen« abhebt (hier und auf dem Album unter dem Titel »Siyabulela«). Pure Magie, musikalische Momente, von denen man sich wünscht, dass sie nie enden mögen. »This music is about freedom« hat Asher Gamedze zu Beginn des Konzerts gesagt, und er hat damit ganz sicher nicht das gemeint, was das »Freiheitsgesindel« (Hegel) unserer Tage darunter versteht…

Dazwischen zeigt KOMПOUSSULĂ, dass es auch noch so gut gemeinte kuratierte Projekte in aller Regel weder an Sinnlichkeit, Stringenz noch an Qualität mit gewachsenen Kollektiven und Bandprojekten aufnehmen können. Hier wurden zehn Musiker*innen aus Osteuropa, Frankreich und dem Raum um das Schwarze Meer eingeladen, »folkloristische Musiktraditionen im erweiterten Jazzkontext zu adaptieren«, wie es im Kurator:innen-Sprech heißt. Es gibt einige wenige schöne Augenblicke, etwa im Dialog der Sängerin Maryana Golovchenko mit der Pianistin Kateryna Ziabliuk. Aber meistens spielen da zehn Musikerinnen und Musiker wie in einer Selbsterfahrungsgruppe zusammenhanglos vor sich hin, und das hört sich einfach scheußlich an. Hatte man bei Asher Gamedze den Wunsch, die Musik möge niemals aufhören, so ist der Rezensent bei diesem abschreckenden Beispiel kuratierter Musikkultur in großer Sorge, dass sie nicht mehr enden könnte, und flieht wie viele andere vor der Zeit aus dem Saal.

Doch die Erlösung folgt auf dem Fuß: Die große Matana Roberts betritt mit ihrem Ensemble die Bühne, feierlich eine Pfauenfeder balancierend. Das vierte Kapitel ihres Langzeitprojekts »Coin Coin«, einer zwölfteiligen Reihe von klanglich-musikalischen Black History-Ethnografien, die man auch mit Guy Debord als Psychogeografien bezeichnen könnte, beschäftigt sich mit Memphis, einer der wichtigsten Musikstädte der USA – und auch Wohnort einer Verwandten der Musikerin namens Liddie, deren Vater vom Ku-Klux-Klan ermordet wurde. Matana Roberts vereint Geschichte, Untergrund und musikalische Topografie von Memphis und weitet diese zu einer beeindruckenden Totenmesse aus. Diese faszinierende Zauberin greift auf der Bühne auch mal zu Tarot-Karten, um sich das nächste Stück ihres Programms voraussagen zu lassen. Wir hören Blues, Gospel, Jazz, R&B – musikalische und literarische Beschwörungen, die mal komplex und tiefsinnig, mal mit wunderschönen Songs, mal in irrsinnigen Improvisationen daherkommen, zum Nachdenken anregen und noch lange nachhallen. Politische und explizit auch feministische Befreiungsmusik des 21. Jahrhunderts, abenteuerlich und vielfältig.

So viele Acts, so viel gute Musik – unmöglich, sie alle zu beschreiben oder auch nur zu nennen. Beispielhaft erwähnt seien: das Borderlands Trio – die Pianistin Kris Davis, der Bassist Stephan Crump und der Schlagzeuger Eric McPherson bieten eine grandiose improvisatorische Erzählung. Der Gitarrist Jeff Parker (of Tortoise fame, aber längst auch ein musikalischer Alleskönner und Hans Dampf in allen musikalischen Gassen), der mit seinen innigen, träumerischen und nachdenklichen Soli das Publikum verzaubert. Oder das Ensemble um den charismatischen Geschichtenerzähler Ben LaMar Gay – das diesjährige Jazzfest blüht immer dann auf, wenn es der Qualität der eingeladenen Musiker*innen und Ensembles vertraut.

Und schließlich empfangen wir in der späten Samstagnacht die Eucharistie aus den Händen des charismatischen jungen Saxofonisten Isaiah Collier und des famosen Schlagzeugers James Russell Sims, zu denen im zweiten Konzertteil noch der Kontrabassist Jeremiah Hunt und der Pianist Julian Davis Reid als »The Chosen Few« stießen: Wilde, ekstatische, unglaubliche Duos an Saxofon und Schlagzeug, faszinierende Arbeiten an modalen Themen, glühende Prophezeiungen einer anderen Welt. Das alles unter dem Dach von »Cosmic Transitions«, also kosmischer Übergänge, die in einem Ritual mit Glöckchen und monotonen Anrufungen beschworen werden – ohne Spiritualität ist auch der moderne Chicagoer Jazz nicht zu haben, schließlich ist Musik ja »die heilende Kraft des Universums«, wie Albert Ayler 1969 ein Album nannte. Dann wieder treiben sich die vier Musiker gegenseitig in ungeahnte Höhen, ihr Spiel atmet eine unbedingte Dringlichkeit, die an Brötzmann und natürlich an »A Love Supreme« erinnert. Denn über allem wacht für immer und ewig der Heilige Geist von John Coltrane.

Der Jazz ist, neben dem Hip-Hop, wieder zur brodelndsten, politischsten und mithin wichtigsten Musik unserer Zeit geworden. Das 59. Jazzfest Berlin hat es gezeigt.

Die ARD-Jazznacht (u.a. mit dem Auftritt von Brötzmann/Bekkas/Drake) kann bis zum 29.11.hier nachgehört werden: https://mediathek.berlinerfestspiele.de/de/jazzfest-berlin/2022/ard-jazznacht. Die Aufzeichnung der Konzerte u.a. von Matana Roberts, Isaiah Collier, aber auch von KOMПOUSSULĂ steht bis zum 28.11. in der Mediathek: https://mediathek.berlinerfestspiele.de/de/jazzfest-berlin/2022/jazzfest-berlin-on-air-2 Im »Digital Guide« des Jazzfest Berlin sind Hintergründe zu den »Outside Traditions« zu lesen: https://www.berlinerfestspiele.de/de/jazzfest-berlin/digital-guide/2022/outside-traditions.html. Zu Sven-Åke Johansson gibt es das hier (mit einem sehr schönen autobiografischen Text) https://www.berlinerfestspiele.de/de/jazzfest-berlin/digital-guide/2022/sven-ake-johansson.html

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