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Schwarz steht für Fassungslosigkeit
Nach der Massenpanik von Itaewon kommt Südkorea nicht zur Ruhe. Es könnte ein politisches Beben folgen
Als Jun Choi seine Fotos durchging, bekam er einen Kloß im Hals. Nach kurzem Zögern drückte er an seiner Kamera die Taste mit der Aufschrift: »Alles löschen«. Hunderte junge Menschen hatte der Fotograf bei den Halloween-Feiern in Seoul abgelichtet, mit den Ergebnissen war er zufrieden gewesen. »Die Leute sahen lustig und glücklich aus«, sagt Jun. Ein Graf Dracula war dabei, eine Hexe, ein Superman. Endlich, nach zweieinhalb Jahren Pandemie, konnten sie in der südkoreanischen Hauptstadt wieder ausgelassen feiern.
Was Jun Choi den Rest gab, war eine junge Frau, die sich als Engel verkleidet hatte. »Ich sah sie in meinen Aufnahmen wieder und musste an den Moment denken, als ich sie auf der Straße fotografierte. Und dann dachte ich an das, was später noch geschah. Vielleicht ist sie jetzt wirklich ein Engel.« Jun Choi, ein kräftig gebauter junger Mann mit kurz rasierten Haaren und tätowiertem Hals, hat feuchte Augen, als er das sagt. »Ich hätte es nicht mit mir vereinbaren können, wenn ich die Fotos behalten und mit dem Leid der Opfer Geld verdient hätte.«
Deswegen ist der Fotograf noch einmal an den Ort zurückgekehrt, den er bis vor einigen Tagen noch als Mittelpunkt des Vergnügens kannte. Nun aber sei er das Sinnbild für eine vermeidbare Tragödie. Mindestens 156 Menschen kamen inmitten von Halloween-Feiern bei einer Massenpanik im Seouler Partyviertel Itaewon ums Leben. Ein Mangel an Kontrollen, um den enormen Menschenandrang auf den engen Straßen zu verhindern oder zu steuern, gilt seither als wichtigster Grund für die Katastrophe.
Es war das erste Halloween-Fest seit Beginn der Pandemie, zu dem es keine strengen Beschränkungen gab. Der Ansturm wurde aber nicht nur unterschätzt, sondern offenbar ignoriert. Am Abend gingen nämlich zahlreiche Notrufe bei der Polizei ein, bei denen sich in der Menge befindende Personen Hilfe anforderten. Die Polizei aber blieb lange untätig. Inzwischen weiß man, dass ein Polizeiaufgebot in der Nähe der Massenpanik stationiert war, um Demonstrationen zu sichern. Wie es zu der Katastrophe kommen konnte, das fragt seitdem das ganze Land.
An einer Kreuzung über der U-Bahnstation Itaewon nahe dem Fluss Han mischt sich in den Verkehrslärm ein allgegenwärtiges Schluchzen. Ein auf dem Boden sitzender Mönch läutet eine Glocke und klopft auf einen Metallstab, um der Trauer einen Takt zu geben. Um ihn herum breitet sich ein Meer weißer Blumen aus, am Geländer kleben bunte Zettel mit Trauerbotschaften. »Warum musste das passieren?«, steht auf einem. Als Jun Choi seine Kamera runternimmt, fragt er: »Warum sind jetzt, wo die Katastrophe längst geschehen ist, plötzlich mehr als genug Polizisten hier?«
Die »Massenpanik von Itaewon«, wie die Katastrophe mittlerweile in den Medien bezeichnet wird, zieht längst politische Kreise. Nicht nur, dass Präsident Yoon Suk-yeol Staatstrauer verkündet hat. Am Mittwoch wurden auch Polizeiwachen durchsucht, um herauszufinden, warum die Offiziellen, die eigentlich für die Sicherheit der Menschen verantwortlich sind, ihre Aufgaben nicht erfüllt haben. Zumal sich keine 50 Meter von der Stelle, wo am Samstag so viele Menschen starben, eine Polizeiwache befindet. »Wir werden alles aufklären«, verspricht Yoon, »bis keine Zweifel mehr bleiben.«
Nicht nur die demonstrative Entschlossenheit des Präsidenten verrät, wie sehr diese Katastrophe am Selbstverständnis rüttelt, das Südkorea von sich hat. Sechs Kilometer südöstlich von Itaewon bietet ein langes Schweigen des Wirtschaftsministers ähnliche Einblicke. Auf der »Invest Korea Week«, einer internationalen Konferenz, die ausländischen Investoren die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Südkorea anpreisen soll, wollte Ahn Duk-geun eigentlich nur über die starke Halbleiterindustrie und die effiziente Bürokratie dozieren.
Doch auf einer Pressekonferenz wird auch er darauf angesprochen, wie es zu dieser Massenpanik kommen konnte. »Sie können mich beim Wort nehmen«, sagt der Wirtschaftsminister zögerlich auf Englisch, während er eben noch Koreanisch gesprochen hat. »Die koreanische Gesellschaft wird nach dieser Tragödie eine sicherere und bessere werden.« Man werde aus den Fehlern, den zu lax gehandhabten Sicherheitsregeln, das Nötige lernen. »Wir werden aus dieser Lage eines Entwicklungslandes herauskommen.«
Eigentlich ist man in Südkorea stolz auf die Entwicklung des Landes. Schließlich gelang hier ein beispielloser Aufstieg: Im Jahr 1953, als der Krieg mit Nordkorea in einen Waffenstillstand mündete, hatte Südkorea noch zu den ärmsten Ländern der Welt gehört. Gut drei Jahrzehnte später war es dank kluger Industriepolitik und einer lernfähigen Gesellschaft zu einem Industriestaat geworden. Kaum irgendwo ist das Internet schneller, die Smartphone-Dichte höher. Südkoreas reale Wirtschaftsleistung pro Kopf ist mittlerweile höher als die von Japan.
Und dennoch: Der Vergleich mit einem Entwicklungsland, der Wirtschaftsminister Ahn im Eifer herausgerutscht ist, hat seine Gründe. Denn so eine Tragödie wie in Itaewon erschüttert Südkorea nicht zum ersten Mal. Immer wieder kommen viele Menschen bei Unglücken ums Leben. Im Jahr 2005 etwa starben elf Leute im Gedränge bei einem Konzert in Sangju.
2014 folgte ein Fährunglück, das Passagierschiff »Sewol« ging auf dem Weg zur Insel Jeju plötzlich unter, 306 Personen starben. Auch weil 250 davon Schülerinnen und Schüler aus einer unterprivilegierten Gegend waren, war der folgende Protest besonders groß. Die Regierung klärte damals das Unglück nur zögerlich auf. »Die Itaewon-Katastrophe zeigt, dass sich überhaupt nichts geändert hat«, kommentiert nun »Korea Times«.
Wobei es ein Missverständnis wäre anzunehmen, die öffentliche Sicherheit habe in Südkorea keinen Stellenwert. Zu Demonstrationen für Arbeitnehmerrechte etwa rücken normalerweise große Aufgebote von Polizisten aus und verhängen auch schnell Strafen bei relativ kleinen Regelüberschreitungen. »Es muss etwas mit den Prioritäten zu tun haben«, sagt Chris Ha in Itaewon. Am Abend steht er mit dem Rücken zur improvisierten Trauerstätte am Katastrophenort und hält ein schlichtes, schwarzes Schild hoch. »Es ist jetzt genau 18 Uhr 34«, erklärt der 31-jährige Arzt, der nach seinem Feierabend direkt hierhergekommen ist. »Zu dieser Uhrzeit am Samstagabend ging der erste dokumentierte Hilferuf bei der Polizei ein. Aber nichts geschah.« Schwarz stehe für Fassungslosigkeit.
Chris Ha trägt eine dunkelgrüne Bomberjacke, weißen Mundschutz und ist unübersehbar wütend. Er steht in einer Reihe mit ungefähr 100 jungen Menschen, von denen jeder ebenso ein schwarzes Schild vor sich hält. Von der Protestaktion erfuhr Ha über einen Gruppenchat. »Wir erwarten Aufklärung«, sagt er in scharfem Ton. »Warum schützt der Staat nicht auch die Leben normaler Leute?« Es entstehe der Eindruck, dass die Polizei vor allem dann dazu bereit sei, wenn die Interessen der Regierung oder der Industrie gesichert werden sollen.
Auch der südkoreanische Präsident Yoon steht in der Kritik, zu viele Sicherheitsressourcen zu verschlingen. Kurz nach seinem knappen Wahlsieg im März verkündete der Konservative, dass er einen neuen Amtssitz beziehen und anders als vorige Präsidenten nicht mehr am Arbeitsplatz wohnen würde. Durch das tägliche Pendeln werden 700 Polizeikräfte beansprucht.
»Der neue Amtssitz des Präsidenten ist nur ein paar Minuten von hier entfernt!«, sagt Chris Ha. »Mir kann niemand erzählen, dass es uns an Polizisten in der Nähe mangelt. Es ist eine Frage der Ressourcenverteilung.« Ha war an dem Abend, als die feiernde Menge in Panik ausbrach, in einer Bar ein paar Häuserblocks weiter. Auf seinem Heimweg näherte er sich der Katastrophenzone. »Es war surreal, wie in einem Zombiefilm. Meine Freunde und ich sahen verstört aussehende Menschen mit gruseligen Kostümen, wie sie davonliefen. Aber wir sahen keine Polizei.«
Polizisten wiederum haben die letzten Tage erklärt, sie seien überfordert und überarbeitet, was wiederum Fragen an die Regierenden aufwirft. Die linksliberale Demokratische Partei, die sich derzeit in der Opposition befindet, hat bereits den Rücktritt des Präsidenten, des Innenministers sowie des Bürgermeisters von Seoul gefordert – allesamt Personen der konservativen Partei Macht des Volkes. Allerdings sorgte auch dies schon für Kritik. In Zeiten der Staatstrauer gilt die Politisierung einer Katastrophe als unanständig.
Dabei ist nicht zu erwarten, dass der Unmut, den viele Menschen über die politische Führung empfinden, allzu bald abnimmt. Nach dem Fährunglück der »Sewol« im Jahr 2014 brach eine riesige Protestwelle los, die im Nachhinein den Anfang vom Ende der damaligen Präsidentin Park Geun-hye bedeutete. Acht Jahre später könnte das Verzeihen noch schwerer fallen.
Am Wochenende demonstrierten Tausende durch das Zentrum von Seoul. Viele fordern den Rücktritt des Präsidenten. Neben schwarzen Schildern sind Kerzen das dominante Zeichen – die waren bereits ein Symbol der Proteste gegen Yoons Amtsvorgängerin und Parteikollegin Park Geun-hye, die nach ihrem behäbigen Krisenmanagement rund um den »Sewol«-Untergang noch mit einem Korruptionsskandal zu kämpfen hatte. Ihre politische Karriere überlebte die Proteste nicht, Park wurde des Amtes enthoben.
Der amtierende Yoon Suk-yeol durchlebt gerade ähnlich unbequeme Zeiten. Seit Wochen protestieren Tausende gegen den rechtspopulistischen Präsidenten. Insbesondere wird kritisiert, dass der ehemalige Generalstaatsanwalt diverse Personen untersuchen lässt, die zugleich politische Gegner von ihm sind. Längst wird ihm vorgeworfen, die Staatsanwaltschaft zu politisieren. Um Proteste gegen den Präsidenten abzusichern, war die Polizei auch an jenem Abend der Katastrophe woanders. Seitdem sieht es einmal mehr so aus, als wäre Yoon Suk-yeol am eigenen politischen Überleben mehr interessiert als am Wohle anderer. Entsprechend energisch tritt der Präsident jetzt auf und gelobt Aufarbeitung.
Viele sind davon aber nicht überzeugt. Wie der Arzt Chris Ha sieht auch der Fotograf Jun Choi in der Massenpanik von Itaewon ein Problem der Ungleichheit. »Viele ältere Menschen mögen Itaewon nicht, weil es hier immer laut ist und die Leute so ausgelassen feiern«, hat er am Rande des Pflanzenmeers geflüstert. »Das stimmt auch. Aber ich liebe diesen Ort. Ich wohne hier um die Ecke und fühle mich wohl. In die Bars kommen all die jungen Menschen, die vom stressigen Alltag voller Hierarchien und sozialer Erwartungen dringend eine Erholung brauchen.«
Arbeitnehmerinnen in Südkorea genießen im Schnitt kaum zehn Urlaubstage pro Jahr, die Zahl jährlich geleisteter Arbeitsstunden liegt höher als in fast jedem anderen Industriestaat, Hierarchien sind meist steil und stark nach Alter strukturiert. Wer jünger ist, hat in der Regel weniger zu sagen. »Und die öffentlichen Feiertage müssen wir mit der Familie verbringen, wo uns dann auch noch mal gesagt wird, wie wir unser Leben zu leben haben«, so Jun Choi.
Deshalb sei ein Ort der Zügellosigkeit wie Itaewon so wichtig. »Ich habe all diese Menschen, die ich aus den Bars und Klubs hier kenne, nie als anstrengend und laut empfunden. Für mich waren es immer Opfer des harten Arbeits- und Alltagslebens.« Mindestens 156 Personen, die von der Menge erdrückt wurden, seien nun zum zweiten Mal zu Opfern geworden. Und mit ihnen vielleicht ein ganzes Viertel? Jun Choi überlegt. »Ich glaube, Itaewon wird ab jetzt ein anderer Ort sein.«
Der Autor wurde zur im Text genannten Konferenz von den Veranstaltern eingeladen. Seine journalistische Unabhängigkeit war ihm vorab zugesichert worden.
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