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Wie wirken die Sanktionen gegen Russland?
Der Sinn wirtschaftlicher Strafmaßnahmen gegen das Putin-Regime ist in der Linken umstritten – eine Bestandsaufnahme
Über die EU-Sanktionen gegenüber Russland wird in der Linken heftig debattiert. Wirken die Sanktionen? Oder schaden sie uns selbst mehr als Russland, wie einige behaupten?
Während die Parteivorsitzenden ebenso wie der Erfurter Parteitag der Linken im Juni sich klar für Sanktionen gegen Russland ausgesprochen haben, fordert etwa der Vorsitzende des Energieausschusses des Bundestages, der Linke-Abgeordnete Klaus Ernst, ein Ende der Ein- und Ausfuhrbeschränkungen gegenüber Russland. Auch der Ostbeauftragte der Linke-Fraktion im Bundestag, Sören Pellmann, wünschte sich jüngst eine »Korrektur der Sanktionen«, weil deren Folgen die Wirtschaft in Ostdeutschland schädigten.
Bei den Sanktionen sollte der Genauigkeit halber von zusätzlichen Sanktionen gesprochen werden. Einige Strafmaßnahmen bestanden schon seit der Annexion der Krim im Jahr 2014. Jetzt kamen aber zu Sanktionen gegen Einzelpersonen noch breite Ein- und Ausfuhrbeschränkungen hinzu, zum Beispiel für den Export von Gütern der Spitzentechnologie und von Gütern und Technologien für die Energiewirtschaft, die Raumfahrt und die Seeschifffahrt. Auch der Import von Kohle in die EU ist sanktioniert, genau wie jener von Erdöl, letzterer aber erst mit einer Verzögerung von sechs bis acht Monaten. Explizit ausgenommen sind Importe von Nahrungsmitteln aus Russland in die EU sowie Importe von Gas.
Die Frage bleibt: Wirken die von der EU beschlossenen Sanktionen? Und wenn ja, wie? Das war Thema eines Fachgesprächs der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die Einschätzungen zu den bisherigen Auswirkungen der Sanktionen gehen ja weit auseinander: Steht die russische Wirtschaft vor dem Kollaps? Oder sind die Ein- und Ausfuhrbeschränkungen weitgehend wirkungslos, ist der Rubel stärker als vor dem Krieg und die russische Wirtschaft ungebrochen standfest?
Der russische Ökonom und Politikwissenschaftler Ilja Matwejew kam zu einer klaren Einschätzung. Matwejew, der bis zum Ukraine-Krieg Assistenzprofessor an der Universität St. Petersburg war, aber seitdem Russland verlassen hat, argumentierte, dass der unmittelbare Zusammenbruch der Wirtschaft zwar nicht eintreten werde, aber die Langzeitperspektive für die russische Wirtschaft wegen der Sanktionen ziemlich düster aussehe.
Das Bruttoinlandsprodukt wird dieses Jahr und auch 2023 und 2024 nicht dramatisch einbrechen; die Weltbank rechnet mit einem Minus von 4,5 Prozent im Jahr 2022, das russische Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung mit minus 2,9 Prozent. Das klingt nach einem moderaten Rückgang, einer leichten Rezession, die obendrein schon 2024 zu Ende gehen soll.
Dass die russische Wirtschaft sich kurzfristig so stabil zeigt, rührt laut Matwejew vor allem aus zwei Ursachen: Erstens ist da der Umstand, dass noch keine Exportbeschränkungen für Gas und Öl greifen und zugleich der Preis für Gas und Öl dramatisch angestiegen ist. Selbst wenn die Ausfuhrmengen abgenommen haben (man denke an die in Trümmern liegende Nordstream-Pipeline), fiel dies nicht groß ins Gewicht, weil der Preisanstieg den Rückgang wettgemacht hat. Und Russland ist nach wie vor imstande, Öl zu verkaufen und mit den Einnahmen daraus einen beträchtlichen Teil seines Haushalts zu bestreiten.
Zweitens gibt es Bereiche der russischen Wirtschaft, die sich als widerstandsfähig erwiesen haben: das Baugewerbe etwa, aber auch Sektoren der Industrie, die Importe aus der EU und den USA durch andere Kanäle und andere Herkunftsländer ersetzen konnten. Statt aus der EU besorgt man sich nun eben Teile aus der Türkei und Asien.
Zu den Sektoren, in denen die Sanktionen sehr wohl Wirkung zeigen, gehört die Autoindustrie, in der ganze Fabriken stillstehen, und alle Bereiche, aus denen sich ausländische Unternehmen zurückgezogen haben. Darunter sind Firmen, die den Markt von sich aus verlassen; anderen müssen wegen fehlender Teile ihre Produktion einstellen. Noch hat sich das nicht in den Arbeitslosenzahlen niedergeschlagen, aber es ist wohl nur eine Frage der Zeit, mit allen sozialen Folgeproblemen.
Was der russischen Wirtschaft viel mehr zu schaffen machen wird, ist nach Einschätzung von Matwejew die Mobilisierung, mit der die russische Regierung auf Rückschläge an der Front in der Ukraine regiert hat. Sie wird die Wirtschaft zweifellos nachhaltig schädigen: Künftig fehlen nicht nur Hunderttausende Männer im erwerbsfähigen Alter, weil sie zum Kriegsdienst eingezogen wurden, sondern zusätzlich Hunderttausende, die sich ins Ausland abgesetzt haben, um der Einberufung zu entgehen.
Die längerfristige Perspektive russischen Wirtschaft sieht Matwejew ziemlich düster: Technologisch werde das Land immer weiter zurückfallen, weil sich Importe auf diesem Gebiet nicht so einfach substituieren ließen; Stagnation sei die wahrscheinliche Folge.
Wenn man Matwejew zuhört, muss man dreierlei schlussfolgern: Erstens, die Sanktionen haben kurzfristig keine dramatische Wirkung auf die russische Wirtschaft. Zweitens, langfristig werden sie aber wohl – neben anderen Trends, die die russische Wirtschaft prägen – sehr negative Folgen haben. Sie verstärken den demografischen Trend zu einer schrumpfenden Gesellschaft, umso mehr, als jetzt die Kinder der geburtenschwachen 1990er-Jahrgänge selbst wegen des Krieges, der wirtschaftlichen Folgen der Sanktionen und der Emigration vieler junger Menschen, weniger Kinder in Russland bekommen werden.
Drittens: Die Art der Sanktion, welche die Handlungsfähigkeit der russischen Regierung am stärksten treffen würde, wäre ein Öl- und Gasembargo. Das hätte Wirkung, weil die Einnahmen aus Energieexporten rund 40 Prozent des Haushalts ausmachen. Es würde wohl auch dazu führen, dass sich die russische Regierung irgendwann entscheiden müsste: Lieber weiterhin Renten und Sozialleistungen zahlen oder den Krieg finanzieren? Matwejew hat wenig Zweifel, dass der Kreml die Kriegsfinanzierung so lange wie möglich nicht antasten wird. Was im Umkehrschluss bedeutet: Die Renten werden sinken und viele Millionen Menschen an den Rand des Existenzminimums bringen – oder gar darunter.
Diese Art der Sanktion muss mitbedenken, welche Nebenwirkungen sie verursachen könnte. Gleichzeitig machte Matwejew deutlich, dass er niemanden unter den russischen Linken, die den Krieg ablehnen, kenne, die sich für ein vollständiges Ende der Sanktionen einsetze. Er selbst lehnt sinnlose Sanktionen ab und hat bei anderen als Sozialist Probleme, sich dafür einzusetzen, weil sie sozialen Verwerfungen nach sich ziehen würden. Aber grundsätzlich lehne er wie viele andere russische Linke Sanktionen nicht ab.
Auf die Frage, welche Teile der Bevölkerung am meisten von den Sanktionen getroffen seien, meinte Matwejew: Weder die Ärmsten, die ganz für sich auf dem Land leben, in die globale Wertschöpfung gar nicht integriert und wenig von Importen abhängig sind. Aber auch nicht unbedingt die Großstädte wie Moskau oder Sankt Petersburg: Die seien in der Lage, ihre Wirtschaftskreisläufe zu diversifizieren und auf Beschränkungen zu reagieren. Am härtesten treffen die Sanktionen kleinere Städte abseits der Metropolen, die abhängig sind von einem Unternehmen oder einem Sektor der Industrie.
Dass die Frage aber eigentlich gar nicht so leicht zu beantworten ist, führte die aus Russland stammende Mitarbeiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Jelena Besrukowa aus: Einmal hänge ein beträchtlicher Teil der russischen Wirtschaft vom Staat ab, ein umfangreicher staatlicher Sektor, der das Herzstück des Putin-Regimes bilde. Dieser Sektor sei nicht nur weniger von Sanktionen betroffen, sondern teilweise auch beeinflusst von der Regierungspropaganda, dass die Sanktionen nicht wirkten.
Auch Besrukowa betonte: Man könne nicht sagen, dass die Sanktionen die Ärmsten am stärksten treffen. Denn die konnten sich schon bisher viele der Dinge nicht leisten, die jetzt aufgrund der Sanktionen nicht mehr möglich sind, etwa McDonalds-Besuche oder Auslandsreisen mit Touristenvisa in die EU.
Jan van Aken, Referent für internationale Konflikte bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, unterzog schließlich die von der EU beschlossenen Sanktionen einer kritischen Bewertung: Es sei Stand der internationalen politikwissenschaftlichen Debatte, dass Sanktionen nur dann wirken, wenn sie ein klares Ziel haben. Das aber vermisst van Aken bei den EU-Sanktionen. Einmal sei die Rede davon, dass man mit den Sanktionen Russland »wirtschaftliche und politische Kosten auferlegen« wolle. Aber das sei ja gar kein Ziel, sondern nur Vergeltung.
An einer anderen Stelle sage der EU-Rat, es gehe darum, »die Fähigkeit des Kremls, Krieg zu finanzieren, zu schwächen«. Das aber sei ein recht unkonkretes Ziel, das zudem nur schwer zu erreichen sei, so van Aken: weil der Kreml ja selbst bei wegbrechenden Haushaltseinnahmen immer noch die Kriegsführung priorisieren werde, um seinen eigenen Machterhalt zu sichern.
Was aber wäre ein Ziel für Sanktionen aus linker Perspektive? Einmal, sagte van Aken, die russische Kriegsmaschinerie zu stoppen. Was in jedem Fall Sanktionen auf alle »dual use«-Exporte nach Russland implizieren würde, also auf alle Güter, die sowohl für militärische als auch für zivile Zwecke eingesetzt werden könnten.
Ein zweites mögliches Ziel für Sanktionen könne es sein, den Druck auf den Kreml zu erhöhen, Friedensverhandlungen zu führen. Wie könnte man das erreichen? Van Aken erinnert an den Vorschlag des französischen Ökonomen Thomas Piketty: Um Putins Machtbasis zu treffen, müsste man alle russischen Multimillionäre sanktionieren. Also nicht nur die Handvoll von Oligarchen, sondern die rund 20 000 Individuen, die mehr als zehn Millionen Dollar besitzen. So könnte möglicherweise Druck auf den Kreml erzeugt werden, den Krieg zu beenden.
Am Ende stand die Frage, wie stark die Russland-Sanktionen uns selber schaden, weil Russland kein Gas mehr liefert und weil die Energiepreise so explodierten. Jan van Akens Antwort: Die hohen Gaspreise werden nicht durch die Sanktionen bewirkt, sondern durch die Drosselung der Exporte durch Russland, also gewissermaßen die russischen Gegensanktionen. Diese Entscheidung aber war nicht die Reaktion darauf, dass die EU und die USA Sanktionen beschlossen haben, sondern ganz allgemein die Vergeltung dafür, dass sie die Ukraine finanziell und mit Waffenlieferungen unterstützen. Was im Umkehrschluss bedeute: Auch wenn die EU die Sanktionen zurücknimmt, wird Putin den Gashahn nicht wieder aufdrehen, sondern erst dann, wenn die Unterstützung für die Ukraine im Ganzen aufhört. Vielleicht sollte man das so aussprechen, wenn man sich wieder niedrigere Gas- und Stromrechnungen wünscht.
Van Aken sagt es so: »Die hohen Gaspreise sind kein Sanktionsproblem, sondern ein Christian-Lindner-Problem.« Der deutsche Finanzminister hätte es bereits im Sommer in der Hand gehabt, durch Preisdeckelungen die Energiekosten für Verbraucher und Industrie auf ein erträgliches Maß zu begrenzen. Er hatte sich bewusst dagegen entschieden.
Fabian Wisotzky ist Referent für Mittel- und
Osteuropa am Zentrum für internationalen
Dialog der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
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