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»Klar kaufen die Leute weniger«
Spätis gehören zu Berlin – aber in der aktuellen Krise befürchten Branchenvertreter eine Pleitewelle
Sahin Karaterzi ist guter Dinge. »Schönes Wetter heute«, sagt er. Das sei ideal, weil es dann mehr Laufkundschaft gibt. Jetzt, am Vormittag, ist in seinem Spätkauf »Kiosk 44« an der Hermannstraße in Neukölln noch wenig los. Karaterzi begrüßt einen Kunden auf Türkisch und kassiert acht Euro für eine Schachtel Pall Mall. Das richtige Geschäft starte ohnehin erst ab 17 Uhr, sagt er und brüht sich einen Kaffee.
Von 9 Uhr morgens bis 3 Uhr in der Nacht hat sein Laden geöffnet, am Wochenende auch deutlich länger. Wenn Karaterzi eine Schicht macht, steht er mindestens zwölf Stunden hinter dem Verkaufstresen, häufig auch 14 oder 15 Stunden. »Das ist ganz normal«, berichtet er. Er ist zugleich Sprecher des Vereins Berliner Späti, der die Interessen der etwa 1200 Spätverkaufsstellen in der Stadt vertritt. Daher bekommt er auch mit, wie es in anderen Geschäften läuft. »Das Geschäft nimmt einen vollkommen ein«, sagt er. Wenn man nicht hinter der Theke stehe, mache man den Einkauf oder Papierkram.
Die Spätis sind eine Berliner Institution. Obwohl die kleinen Läden in vielen Kiezen das Straßenbild prägen, sind sie in ihrer jetzigen Form ein relativ junges Phänomen. Zwar gab es in der DDR schon ab den 50er Jahren Spätverkaufsstellen, gedacht vor allem für Schichtarbeiter. Die Geschäfte mussten jedoch spätestens um 22 Uhr schließen. In Westberlin besorgte man sich in den Nachtstunden den Getränkenachschub bei Imbissen oder an der Tankstelle. Mit der Wende kamen die Spätverkaufsstellen dann auch in den Westen und wurden sprachlich erst zum Spätkauf und dann zu Spätis.
Besonders Berliner mit türkischer Migrationsgeschichte sahen die Geschäftslücke und füllten sie. »Viele haben keinen Uni-Abschluss oder haben in Berufen gearbeitet, die heute nicht mehr so stark nachgefragt werden«, erklärt Sahin Karaterzi. Der Weg in die Selbstständigkeit war da naheliegend, auch weil für das Führen eines Spätis keine besondere Qualifikation notwendig ist. »Es ist auch eine Frage der Mentalität«, sagt Karaterzi. Im Späti müsse man lange Schichten schieben, um am Ende irgendwie Profit zu machen, nicht jeder sei dazu bereit.
Karaterzi selbst hat seinen Laden vor fünf Jahren übernommen. Der Anfang war noch holprig. »Ich wusste nicht, was Blättchen sind oder welche Zigarettenmarken beliebt sind«, sagt der Nichtraucher. Auch bei einem anderen zentralen Element der Produktpalette fehlte ihm die Expertise: Bier verträgt er nicht, erzählt er und lacht. Mit der Zeit habe aber die Erfahrung gezeigt, welche Produkte und Marken sich gut verkaufen. Inzwischen beschäftigt er zwei Mitarbeiter.
Sorgen bereiten Karaterzi vor allem die steigenden Preise. Schon Anfang des Jahres erhöhte sich die Miete um mehr als 400 Euro, kurz darauf verdoppelte sich der Abschlag für Strom und Heizung. Mit den großen Kühlschränken und der bis tief in die Nacht laufenden Heizung potenziere sich das schnell. Mit jeder Rechnung stiegen zudem die Einkaufspreise. Auch Karaterzi hat daher die Preise bereits erhöht. Für eine Packung Chips verlangt er inzwischen drei Euro. »Klar kaufen die Leute dann weniger«, sagt er.
Mit seiner Lage an einer Hauptstraße stehe er noch gut da, erzählt Karaterzi. Aber für viele andere Läden werde es eng. Er rechnet fest damit, dass es spätestens, wenn im Frühjahr die Energieanbieter ihre Rechnungen verschicken, eine größere Pleitewelle unter den Spätis geben wird. »Die Leute können nicht mehr durchatmen.« Dem Verein Berliner Späti zufolge sei die Zahl der Geschäfte in den vergangenen Jahren von einst über 2000 um über 800 gesunken. Unabhängig lässt sich das kaum nachprüfen, da das Gewerberegister Spätis nicht separat führt.
»Den Spätis geht es aktuell ähnlich wie vielen anderen Gewerbetreibenden«, sagt Roman-Francesco Rogat zu »nd«. Er sitzt für die FDP im Abgeordnetenhaus, eines seiner Spezialthemen sind die Spätis. »Das ist gerade keine schöne Zeit.« Rogat setzt sich dafür ein, die Spätis beim Berliner Entlastungspaket zu berücksichtigen. Notfalls könne man sogar überlegen, sie mit Restaurants und Kneipen gleichzustellen, um zu ermöglichen, dass sie Hilfen erhalten. Mit Sorge blickt Rogat auch auf die Corona-Lage im Winter. Bei den Spätis müsse genau hingesehen werden, welche Einschränkungen wirklich notwendig sind, fordert er.
Auch Sahin Karaterzi beunruhigt die Pandemie. Inzwischen sei die Lage zwar besser, aber mit einem erneuten Anstieg der Fallzahlen sei jederzeit zu rechnen. In den vergangenen zwei Jahren habe es immer wieder Einschränkungen bei den Öffnungszeiten gegeben, berichtet er, mit den ausbleibenden Touristen sank auch das Kundenaufkommen. Er selbst infizierte sich im vergangenen Jahr. Höchstwahrscheinlich hat er sich im Laden angesteckt, vermutet er. Bei ihm konnten seine Mitarbeiter einspringen, viele andere Läden werden jedoch von Familien betrieben. »Wenn sich da einer ansteckt, haben es ganz schnell alle«, sagt er. Dann sei der Laden erstmal zu, Kosten wie Miete oder Stromabschläge laufen aber weiter.
Neben der Inflation belaste viele Späti-Betreiber, dass es immer wieder Konflikte mit Anwohnern und Behörden gebe, berichtet Karaterzi. Nicht nur an den Wochenenden bilden sich vor vielen Spätis abends Menschentrauben; manche Läden stellen auch provisorische Sitzgelegenheiten zur Verfügung. Schnell kann es zu Lärmbeschwerden kommen. Karaterzi wirbt für Verständnis: »So laut sind wir doch gar nicht.« Auch vor seinem Laden stehen eine Bierbank und ein Tisch. Inzwischen verkaufe er kein Billigbier mehr, weil das ein schwieriges Klientel anziehe, wie er sagt. Im Zweifelsfall sorge er selbst für Ruhe. So konnten Beschwerden weitgehend vermieden werden, auch weil er ein gutes Verhältnis zur Nachbarschaft habe.
An anderen Orten läuft es weniger harmonisch: Vor allem in Mitte gibt es immer wieder Konflikte um Menschenansammlungen an den Spätis. Der inzwischen abgewählte Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne) sprach von »Party-Exzessen« vor den Verkaufsstellen. Da es in den Spätis keine Toiletten gebe, entledigten sich Betrunkene in Hauseingängen ihrer Notdurft. Der Bezirk hat seitdem die Kontrollen durch das Ordnungsamt verstärkt. FDP-Politiker Rogat plädiert dagegen für einen entspannteren Umgang mit den Späti-Partys. »In Ausgehvierteln gibt es eine Geräuschkulisse, mit der man sich ein Stück weit arrangieren muss«, sagt er. Er wünscht sich, dass die Bezirksämter vor Ort einen »Interessenausgleich« zwischen Anwohnern und Gewerbetreibenden suchen.
Die meisten Bußgeldverfahren gibt es jedoch wegen Spätis, die auch am Sonntag öffnen. Dem Gesetz nach dürfen sie an dem Ruhetag nicht öffnen. Bis 2016 wurde die Praxis dennoch weitgehend toleriert. Nachdem ein Gericht entschieden hatte, dass ein schmales Sortiment von Produkten, die sich an Touristen richten, nicht genüge, um eine Öffnung am Sonntag zu rechtfertigen, haben die Ordnungsämter die Kontrollen aber massiv erhöht.
Ein großer Teil der Spätis öffnet trotzdem und lebt mit der Gefahr, erwischt zu werden. »Natürlich« habe er auch schon einen Bußgeldbescheid bekommen, sagt Karaterzi und lächelt. Weil die Konkurrenz durch Supermärkte wegfalle, sei der Sonntag der umsatzstärkste Tag der Woche. Sein Verband setzt sich dafür ein, dass das Sonntagsverkaufsverbot aufgehoben wird. Karaterzi verweist auf ein neueres Urteil, das eine Öffnung erlaube, sofern nur Getränke bis 0,5 Liter verkauft werden und der Besitzer selbst hinter der Theke steht. Das findet er einen fairen Kompromiss.
»Das Ladenöffnungsgesetz in Berlin ist bereits sehr konsumentenfreundlich«, sagt hingegen Jörg Stroedter, der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Unter der Woche seien fast alle Beschränkungen aufgehoben, zudem gebe es zahlreiche verkaufsoffene Sonntage. Dem Ladenöffnungsgesetz liege ein Kompromiss mit den Gewerkschaften und den Kirchen zugrunde, der nicht ausgehöhlt werden sollte. Wenn für die Spätis nun eine Ausnahme gemacht werde, würden andere Unternehmen ungerecht behandelt werden, die ein ähnliches Sortiment anbieten, so Stroedter zu »nd«.
Viele Späti-Betreiber sehen das naturgemäß anders. »Der Imbiss gegenüber darf ja auch am Sonntag Bier verkaufen«, sagt Sahin Karaterzi. Auch FDP-Mann Rogat wünscht sich einen liberaleren Umgang. Die Eckläden seien auch soziale Treffpunkte. »Die Spätis nehmen in vielen Kiezen inzwischen die Rolle der Eckkneipen ein, wo die Menschen aus der Nachbarschaft zusammenkommen«, argumentiert er. Der Sozialdemokrat Stroedter kann dem wenig abgewinnen: »Man muss dem auch keinen Glorienschein aufsetzen«, sagt er. »Letztlich sind es Konkurrenzangebote im Einzelhandel.« Auch Die Linke und die CDU stehen der Sonntagsöffnung kritisch gegenüber, Teile der Grünen zeigen sich dagegen aufgeschlossen.
Sahin Karaterzi befürchtet, dass die finanziellen Herausforderungen und die ständigen Konflikte mit den Ämtern viele Betreiber zermürben. Sein Verein bietet ein internes Forum an, das die Späti-Betreiber auch nutzen, um bei Geschäftsaufgabe die Läden weiterzuverkaufen. »Die Meldungen sind da sprunghaft angestiegen«, sagt er. In seinem eigenen Umfeld habe es sieben Betreiber gegeben, die ihre Läden abgegeben oder aufgelöst haben. Dabei seien die Spätis ein wichtiger Teil der Nahversorgung. Die ständige Verfügbarkeit von Produkten für den täglichen Bedarf sei auch ein Alleinstellungsmerkmal der Hauptstadt. Das bekomme man mit, wenn man mit Besuchern aus anderen Städten rede. Karaterzi sagt: »Berlin ist eben anders.«
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