Weniger Beitrag mit jedem Kind mehr

Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung soll zügig umgesetzt werden

  • Martin Höfig
  • Lesedauer: 4 Min.

Familien mit mehr als einem Kind könnten bei den Pflegebeiträgen im Durchschnitt um 176 Euro pro Jahr entlastet werden. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie im Auftrag der DAK unter Federführung des Pflegeökonomen Heinz Rothgang. Der Pflegeversicherung würden dadurch jährliche Einnahmen von bis zu 2,9 Milliarden Euro entgehen. Die DAK, die Diakonie Deutschland sowie die Evangelische Arbeitsgemeinschaft Familie (eaf) fordern, die so entstehende Finanzlücke müsse aus Steuermitteln ausgeglichen werden. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss der Gesetzgeber Versicherte mit mehr als einem Kind bis August 2023 bei den Pflegebeiträgen entlasten.

Gemeinsam mit der Vorständin für Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, Maria Loheide, und eaf-Präsident Martin Bujard stellte DAK-Chef Andreas Storm Ende vergangener Woche die Berechnungen der Studie vor. »Die gleiche Beitragsbelastung in der Pflegeversicherung bei steigender Kinderanzahl ist verfassungswidrig – da ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ganz klar«, erklärte Storm. Erziehungsleistung sei eine Aufgabe in gesamtgesellschaftlichem Interesse, deshalb müsse diese Finanzlücke mit Steuermitteln geschlossen werden, so der DAK-Chef weiter. Zudem zog Storm einen Vergleich zur gesetzlichen Rentenversicherung: »Dort werden bereits Kindererziehungszeiten angerechnet und so die Erziehungsleistung gewürdigt. Die dadurch entstehenden höheren Ausgaben der Rentenversicherung werden durch Steuern ausgeglichen, nicht durch Beiträge«. Er verstehe das Urteil des Bundesverfassungsgerichts so, dass die Lage in der Pflege eine systematisch ähnliche sei.

Derzeit unterscheidet die Pflegeversicherung bei den Beitragssätzen lediglich zwischen Eltern und Kinderlosen. Aktuell liegt der Pflegebeitragssatz, den Elternteile auf ihr Einkommen zahlen, einheitlich bei 3,05 Prozent und bei Kinderlosen bei 3,4 Prozent. Nach den Berechnungen der Rothgang-Studie würde bei Eltern der Beitragssatz um einen bestimmten Faktor je Kind sinken, der mit der Kinderzahl geringer wird. Somit würden Versicherte mit zwei Kindern 2,75 Prozent zahlen und Versicherte mit drei Kindern 2,5 Prozent.

Nach dem berechneten Modell könnten 16,2 Millionen Haushalte um durchschnittlich 176 Euro pro Jahr entlastet werden. Dabei würden sich die Entlastungen je nach Haushaltseinkommen und nach der Zahl der im Haushalt lebenden Kinder unterscheiden. Haushalte mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern kämen bei einem durchschnittlichen Haushaltseinkommen auf 153 Euro Entlastung pro Jahr, eine Familie mit zwei Erwachsenen und drei Kindern müsste 246 Euro weniger Pflegebeitrag bezahlen, mit vier Kindern wären es 307 Euro. Entlastet würden Versicherte, deren Elterneigenschaft für mehr als ein Kind anerkannt wird – und dies ein Leben lang, nicht nur, solange die Kinder im Haushalt leben.

Die Studie verweist darauf, dass das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit der Steuerfinanzierung ausdrücklich angesprochen hat. Es hatte die Notwendigkeit einer Entlastung von Familien mit mehreren Kindern mit der »Kostenlast« der Kindererziehung begründet. »Dieser Familienlastenausgleich ist als allgemeine Staatsausgabe ordnungspolitisch grundsätzlich aus Steuermitteln zu finanzieren«, befindet Rothgang in seiner Analyse. Diese Einschätzung teilt auch Loheide. »Wir begrüßen, dass die Erziehungsleistungen von Familien nach Kinderzahl in der Pflegeversicherung honoriert werden müssen. Die Finanzierung durch einen Steuerzuschuss aus dem Bundeshaushalt ist richtig, denn es handelt sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe«, erklärte die Diakonie-Vorständin.

Das Bundesverfassungsgericht habe der Politik nur eine sehr kurze Frist gesetzt, um dem Urteil entsprechend den Beitragssatz zur Pflegeversicherung nach der Kinderzahl zu differenzieren, so Loheide. Daher sei das nächste Jahr ein guter Zeitpunkt für diese erforderliche Korrektur, bei der stehenzubleiben aber längst nicht ausreichend sei. »Mit mir hofft die gesamte Pflege, dass es nicht bei dieser Anpassung zur Finanzierung der Pflegeversicherung bleibt, sondern weitere, längst überfällige Schritte einer Pflegereform auf den Weg gebracht werden«, betonte sie. Konkret nannte Loheide die dringend notwendige Entlastung von pflegenden Angehörigen, die Reduzierung der ständig steigenden Eigenbeiträge in der stationären Pflege sowie die Schaffung von besseren und attraktiveren Rahmenbedingungen für Pflegekräfte.

Im Sinne seiner Expertise für eine gerechtere Familienpolitik wies Eaf-Präsident Bujard darauf hin, dass sich mit jedem weiteren Kind die Fürsorgezeit und auch die finanziellen Kosten für Eltern erhöhen, von der letztlich auch die gesamte Gemeinschaft der Versicherten profitiere. »Insbesondere Mütter schultern die erziehungsbedingten Opportunitätskosten, indem sie häufig zugunsten der Kindererziehung beruflich zurückstecken und so Einkommen, Alterssicherung und Aufstiegschancen einbüßen«, unterstrich Bujard.

Alle drei waren sich darin einig, dass die Zeit dränge und es nun die Aufgabe der Politik sei, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts schnell und praxistauglich umzusetzen, damit Familien in der momentanen Krise spürbar entlastet würden. Die Neuordnung der Pflegebeiträge sollte mit der ohnehin anstehenden nachhaltigen Reform der Finanzen in der Pflegeversicherung verknüpft werden, forderte DAK-Chef Storm.

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