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Geistiges Erwachen
Michael Bienert wandert durch das aufgeklärte Berlin
Wie Berlin um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem Zentrum der europäischen Aufklärung wurde, obgleich es doch seit den Zeiten des Soldatenkönigs eher einer riesigen Kaserne glich, beschreibt der exzellente Berlin-Kenner Michael Bienert in seinem neuen Band »Das aufgeklärte Berlin«. Immer wieder verortet er mit seinen Streifzügen durch die Stadt die wesentlichen Plätze, Gebäude und Straßen in die geistige und historische Topographie Berlins, und dies auf eine Weise, die Lust macht, das alles selbst aufzusuchen.
Und Bienert erzählt die Geschichten dazu, in diesem Falle vor allem die von Friedrich Nicolai, Moses Mendelssohn, Gotthold Ephraim Lessing oder die der Anna Louisa Karsch. Die jüdische und die christlich geprägte Aufklärungsbewegung befruchteten sich in der geistigen Gesellschaft Berlins gegenseitig. Nicht zufällig wohnten die drei miteinander befreundeten Männer zeitweilig im selben Haus, Spandauer Straße 68. Man war denselben Ideen verpflichtet, die Menschenwürde, Glaubens- und Religionsfreiheit, ja überhaupt geistige Freiheit auf ihre Fahnen schrieben. Der Gedanke der Toleranz konnte unter Friedrich II. Allgemeingut in Preußen werden, was keineswegs hieß, Standesgrenzen zu negieren. Doch die Aufklärung als bedeutende philosophische Strömung der Epoche, die Hoffnung auf Bildung und Selbstverantwortung für alle traf auf fruchtbaren Boden. Dabei spielt, neben der Literatur, das Theater eine herausragende Rolle. Verlage, Druckereien und literarische Cafés schaffen die Voraussetzung für den regen geistigen Austausch. Das marmorweiße Lessing-Denkmal von 1890 im Tiergarten steht bis heute als ein Symbol dafür. Denn die berühmte Ringparabel in dessen Stück »Nathan der Weise« ist gewissermaßen das Mantra des aufgeklärten Berlins. Dennoch, als der »Nathan« 1783 im Doebbelinschen Theater in der Behrenstraße uraufgeführt wird, polarisiert er die Gesellschaft. Wie stets in solchen Fällen existiert nichts ohne seinen Widerpart, so setzt sich auch die Aufklärung nur gegen Widerstände durch.
Der besondere Reiz von Bienerts Darstellungen liegt jeweils in der Gegenüberstellung vom vergangenen und heutigen Stadtbild. Anhand einer Fülle an historischen Illustrationen und neuen Fotografien macht er das Flair der Metropole sichtbar, so etwa das Aussehen des Schlossplatzes damals und jetzt. Noch heute findet man das Ephraim-Palais oder das Nicolai-Haus, wenn auch natürlich nach Kriegszerstörungen wieder aufgebaut. Um eine wirkliche Vorstellung vom damaligen Berlin zu vermitteln, hat Bienert immer auch einen speziellen Blick für die Anlage der Stadt. Im 18. Jahrhundert wird Berlin allmählich zur Großstadt, ein spannender Prozess; gegen Ende des Jahrhunderts verdrängt dann der preußische Klassizismus mehr und mehr das friderizianische Barock im Stadtbild. Nachdem Michael Bienert 2021 »Das romantische Berlin« vorstellte, ist der neue Band bereits der siebente in seiner Reihe der »Literarischen Schauplätze«. Entstanden sind einfach schöne Bücher!
Zum Weiterlesen extra empfohlen: Mit dem Frankfurter Buntbuch »›Die Spazier-Gaenge von Berlin‹. Anna Louisa Karsch (1722–1791)« erbringt die Autorin Annett Gröschner den verheißungsvollen Nachweis, dass das aufgeklärte Berlin auch eine weibliche Stimme hatte. Wie die Poetin, einst eine Viehhirtin aus Schlesien, in Berlin reüssierte und schließlich doch zu einem Haus kam, das ihr der König bei einer Audienz in Sanssouci zwar versprochen, aber in Wirklichkeit nie gegeben hatte, liest sich ausgesprochen unterhaltsam.
Michael Bienert: Das aufgeklärte Berlin. Literarische Schauplätze. Verlag für Berlin-Brandenburg, 160 S., geb.,
28 €.
Annett Gröschner: "Die Spazier-Gaenge". Anna Louisa Karsch (1722–1791). Ebenda, 32 S., br., 8 €.
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