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Kolumbien auf Reformkurs
Von Steuern bis Gleichstellung – Gustavo Petro bringt in den ersten 100 Tagen viele Initiativen auf den Weg
Geschichte wird gemacht. Das zeigen die ersten gut 100 Tage der Amtszeit von Gustavo Petro. Kolumbiens erster linker Präsident der Geschichte machte sich nach seinem Amtsantritt am 7. August mit Volldampf an die Arbeit: Unter anderem brachte er eine progressive Steuerreform auf den Weg und schuf ein Gleichstellungsministerium, das von der afro-kolumbianischen Vizepräsidentin Francia Márquez geleitet wird. Mit dem »Gesetz des totalen Friedens« ebnete er den Weg für künftige Dialoge mit aktiven illegalen Akteuren wie den Paramilitärs, Milizen oder der ELN-Guerilla. Internationale Aufmerksamkeit bekam er aufgrund seiner Rede bei den Vereinten Nationen, in der er den Globalen Norden ermahnte und die Drogenpolitik der USA kritisierte.
Argemiro Piñeros, Journalist mit 30 Jahren Berufserfahrung im Politikbetrieb Bogotás, begleitet beruflich den Staatschef seit dessen Amtsantritt innerhalb des Landes und auf Auslandsbesuchen. Gegenüber »nd« beurteilt er den bisherigen Regierungsstil als solide. Seine Politik entspräche genau dem, »was er im Wahlkampf verkörpert« habe. Bisher hat Petro »das Beste aus seinem guten Image gemacht«, zieht Piñeros eine erste Bilanz. Indem er die Themen Gleichheit, Armut und Verbesserung des Lebens aller in den Mittelpunkt rücke, grenze er sich »klar von den bisherigen rechten Regierungen ab«. Besonders beeindruckt den Experten die schnell verabschiedete Steuerreform. Er bewertet dies als »eine große Leistung, die eine Menge Geld von 20 Billionen Pesos (rund 4 Milliarden Euro) Mehreinnahmen pro Jahr einbringe. So etwas habe vor Petro noch keiner geschafft.
Petro versprach bei seiner Amtseinführung, »die Zeit sei reif für einen Wandel«. Die Bevölkerung wartet nun ungeduldig auf diesen spürbaren sozialen Umbruch. Deswegen beäugt die Bevölkerung ihren ersten linken Präsidenten sowohl kritisch als auch mit Bewunderung. Eine Reinigungskraft aus einem ärmeren Teil Bogotás zeigt sich enttäuscht: »Die Regierung hat bisher noch nichts gemacht, es geht weiter abwärts mit unserem Land.« Ein Taxi-Fahrer, der anonym bleiben möchte, findet, dass sich »der Präsident bisher nur für die Landbevölkerung einsetze und dabei die Hauptstädter*innen vergesse.« Eine 26-jährige Verkäuferin aus der Comuna 13, einem bekannten Viertel Medellíns, welches Jahrzehnte lang unter Kämpfen der Guerillas, Paramilitärs und staatlichen Sicherheitskräften litt, erzählt: »Ich habe gute und schlechte Kommentare in meinem Viertel gehört. Aber eines ist mir aufgefallen: In Kolumbien ist alles teurer geworden, seit Petro an der Macht ist und die Frauenmorde nehmen kein Ende, Vergewaltiger werden immer weniger verurteilt oder bleiben auf freiem Fuß, da sehe ich keine Veränderungen.«
Die Frage, wie viel Macht die Regierung hat und wie viele Kompromisse sie eingehen muss, ist unbeantwortet. Camilo Arango aus Medellín blickt kritisch auf die Regierungsarbeit: »Alles nur Schall und Rauch«, meint er. Es gebe keine ausreichenden finanziellen Ressourcen im Staatshaushalt für die geplanten Projekte. »Es wird immer so sein, dass die Reichen mehr Geld bekommen und die Arbeiterklasse keine Hilfe erhält«, fügt er hinzu. Randy Zimmermann, ein afro-kolumbianischer Musiker von der Karibikküste erzählt begeistert, dass er »immer an Petro geglaubt habe«, jedoch sehe er trotzdem wenig Hoffnung auf eine positive Wende in seinem Land.
Danna Coke, eine Studentin aus Bogotá, bewertet den Start der Regierung positiv, besonders mit Blick auf die wirtschaftlichen und politischen Außenbeziehungen. Die Wiederaufnahme der bilateralen Beziehungen zu Venezuela erfreute die Studentin genauso wie die neue Friedenspolitik und das Zugehen auf besonders verletzliche Teile der Bevölkerung: »Genauso wie er es in seiner Kampagne versprochen hatte«. Der Journalist Piñeros stimmt mit Coke überein und bekräftigt: »Petro widmet seine Aufmerksamkeit den bisher nicht gehörten Stimmen, wie der Landbevölkerung und in Armut lebenden Familien. Das ist etwas Neues.«
In feministischen Kreisen wird die neue Regierung als Chance gesehen. Diana López, die Direktorin der Nichtregierungsorganisation »Frauenliga für Frieden und Freiheit«, befürwortet eine Zusammenarbeit: »Wir haben eine Regierung, die uns und den Menschenrechtsaktivisten zuhört. Dennoch müssen wir uns stark dafür einsetzen, dass der Staat unsere Frauenagenda als Priorität mit aufnimmt.«
Juan Pérez, ein Grafikdesigner aus Bogotá stellt klar, dass er kein Unterstützer Petros sei, aber zugeben müsse, dass er »das Beste aus seiner Situation» heraushole. Was die ökonomische Situation Kolumbiens angeht, hat er allerdings keine großen Hoffnungen, da »linke Regierungen in Lateinamerika noch nie besonders gute wirtschaftliche Agenden vorgeschlagen haben«. Die prekäre wirtschaftliche Lage sprach der Präsident kürzlich selbst in einer Rede an: »Lateinamerika wird ausgeplündert. Unsere Währungen verlieren alle an Wert, nicht nur der kolumbianische Peso. Alles ist für uns teurer geworden. Die USA treiben alle Volkswirtschaften der Welt in den Ruin.«
Der Politik-Experte Piñeros schätzt die schwächelnde Wirtschaft als größte Herausforderung der aktuellen Regierung ein. Er sieht »sehr gute Vorschläge», die Frage sei nur, ob sie auch umgesetzt werden können, denn Kolumbien sei ein Staat, der aufgrund seiner Struktur und Geschichte sehr schwierig zu regieren ist. »Man fragt sich, wo das ganze Geld herkommen soll.«
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