- Berlin
- Dekoloniale Erinnerungskultur
Ort des Verbrechens
Eine neue Stele erinnert an die kolonialen Verstrickungen des Völkerkundemuseums in Kreuzberg
»Es ist scheiße kalt, aber wir spielen trotzdem«, sagt der Gitarrist der afrodeutschen Musikgruppe Sauti é Haala. Unter einem Zeltdach beim Parkplatz des Walter-Gropius-Baus, Stresemannstraße/Niederkirchnerstraße, am äußersten Rande Kreuzbergs, singen er und seine zwei Band-Kolleginnen dann ein schnelles Lied mit Worten der Lyrikerin May Ayim. Von den knapp 50 Zuschauer*innen wippen einige im Takt – im eisigen Novembernebel versucht man sich aufzuwärmen.
Es ist schwer, hier keine Symbolik zu erkennen. An einem ungemütlichen Mittwochnachmittag trotzen die Anwesenden der Dunkelheit und Kälte in Deutschland. Und sie trotzen den Widerständen, deutsche Kolonialverbrechen aufzuarbeiten. Ibou Diop von Dekoloniale Berlin, Christian Kopp von Berlin-Postkolonial, die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und ihre Mitstreiter*innen feiern nämlich einen Erfolg: Eine neue Erinnerungstafel an dem Ort, wo früher das Völkerkundemuseum stand, klärt über das Unrecht und die Gräuel auf, die im Rahmen des deutschen Kolonialismus und der sogenannten Völkerkunde stattgefunden haben. Sie ergänzt damit eine bereits vorhandene Stele, die über das Museum und den ersten Direktor Adolf Bastian informiert, ohne jedoch auf die zugrundeliegende Gewalt der Einrichtung einzugehen.
»Koloniale Verstrickungen des Museums für Völkerkunde« ist die neue Tafel überschrieben, darunter erzählt ein Text auf Deutsch und Englisch die Geschichte des Museums. Seine Eröffnung 1886 findet nur wenige Jahre nach der Berliner Afrika-Konferenz statt, wo sich das Deutsche Kaiserreich als Kolonialmacht aufstellt. Der Gründungsdirektor und Professor der Ethnologie Adolf Bastian steht für einen pseudowissenschaftlichen Rassismus und bezeichnet außereuropäische Kulturen als »lebende Fossilien«, die sich in Entwicklungsstufen unterhalb der europäischen Zivilisation befänden.
1889 wird das Museum zum »Ersatz für ein staatliches Kolonialmuseum« und erhält das Exklusivrecht auf Objekte, die »nach den deutschen Schutzgebieten ausgerüsteten Expeditionen eingehen« – also durch Tausch, Trick oder Raub in deutsche Hände gelangen. Massen an Artefakten, Kunstwerken und Alltagsgegenständen landen auf diese Weise im Museumslager. Anfangs verzeichnet die Afrika-Abteilung rund 3000 Eintragungen im Katalog, zum Ende der Kolonialzeit 1919 sind es rund 60 000, bemerkt Bénédicte Savoy in ihrem Redebeitrag. »Manche Kollegen behaupten, dass der deutsche Kolonialismus mit 34 Jahren nur kurz gedauert hätte, aber aus musealer Perspektive sind diese Jahre sehr lang gewesen.« Allein die Größe des Museumsgebäudes, das die Fläche des Gropiusbaus und des Parkplatzes daneben ausfüllte, zeige seine damalige Bedeutung. »Ich bin dankbar, dass es hier jetzt einen Ort für die Füße und den Körper gibt, um diese Dimension zu verstehen.«
Das Museum sammelt nicht nur Artefakte mit oftmals problematischer Herkunft, es sammelt Knochen. Der Direktorialassistent des Museums Felix von Luschan lässt sich für seine rassistische Forschung Gebeine aus aller Welt zuschicken, darunter auch von Opfern des deutschen Völkermordes an den Herero und Nama im damaligen »Deutsch-Südwestafrika«. Bis heute sind nicht alle Gebeine an ihre Herkunftsländer zurückgegeben worden. Daran erinnert Christian Kopp. »Das Museum wurde buchstäblich auf den Gebeinen von Menschen gebaut. Der ehemalige Leiter brüstete sich 1919 damit, dass Berlin die größte Sammlung von Gebeinen der Welt hätte.« Kopp rechnet vor, dass im Schnitt jährlich rund 500 menschliche Gebeine an das Museum geliefert wurden. »Die Geschwindigkeit, mit der wir sie jetzt repatriieren, ist zehnmal so langsam.« Trotz der Freude über die Gedenktafel richtet er deswegen einen Appell an die anwesende Politik: »Die verbliebenen Gebeine hier in Berlin und im Depot müssen endlich ihren Frieden finden.«
Ein guter Schritt, dem noch viele folgen müssen – so betrachtet auch Ibou Diop die Einweihung. Er betont die Mehrdimensionalität, die nun durch die beiden Tafeln sichtbar wird. Tatsächlich stehen die Stelen nicht parallel, sondern versetzt zueinander und schaffen dadurch wortwörtlich einen neuen Raum. »Es ist gefährlich, wenn Gesellschaften ihre Geschichten eindimensional erzählen«, zitiert Diop die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie. Dass die hegemoniale Erzählung durch andere Dimensionen erweitert würde, sei nicht selbstverständlich. »Es ist eine jahrezehntelange Arbeit von Menschen, die Nein gesagt haben, gegen eine eindimensionale Erzählung.«
Auch die Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg Clara Herrmann (Grüne) betont die unermüdliche Anstrengung von Aktivist*innen. »Ohne ihre kritischen Stimmen würde es diese Aufarbeitung nicht geben.« Die Stele setze nun ein Zeichen für eine neue Erinnerungskultur: »Unsere Erinnerungskultur ist politisch und das heißt, sie ist divers, vielfältig, antirassistisch und sie setzt sich schonungslos mit dem Thema Kolonialismus auseinander«, so Herrmann.
Und mehr dieser kritischen Erinnerungsorte sollen folgen. Die Stele gehört zu einem Gedenk-Konzept, das die Leiterin des Bezirksmuseums Natalie Bayer im Auftrag des Bezirks Anfang 2021 veröffentlicht hat. »Gedenken neu Denken« heißt das Papier und schlägt Erinnerungsorte vor, die migrantische, koloniale, feministische und queere Geschichte in den Mittelpunkt stellen. Denn von den über 100 historischen Gedenktafeln in Friedrichshain-Kreuzberg beschäftigen sich weniger als zehn Prozent mit Frauen, nur eine mit einer queeren Person und zwei mit People of Color. Geplant seien etwa Tafeln vor ehemaligen Wohnheimen von Vertragsarbeiter*innen oder eine Stele für Lotte Hahm, die für die Rechte lesbischer Frauen kämpfte und von den Nazis verfolgt wurde.
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