Begegnungen im Regenwald

Mit dem Schiff unterwegs in entlegenen Regionen des Amazonas

  • Michael Juhran
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Marubo-Familie stellt sich schützend vor einen heiligen Kapokbaum im brasilianischen Regenwald.
Die Marubo-Familie stellt sich schützend vor einen heiligen Kapokbaum im brasilianischen Regenwald.

Vor 170 Jahren ließ Jules Verne seinen Helden Joam Dacosta im Roman »Die Jangada« 800 Meilen den Amazonas hinunterfahren. Die schiere Größe und Artenvielfalt des Flusses und des angrenzenden Regenwaldes sowie die Begegnungen mit indigenen Stämmen sind noch immer ein Abenteuer der Superlative.

Reiseinfos
  • Veranstalter: Lernidee Erlebnisreisen
    »1000 Meilen auf dem Amazonas«, 16-Tage-­Reise, ab 6620 Euro
    Tel. (030) 786 000 34, www.lernidee.de
  • Buchtipp: Jules Verne, »Die Jangada. 800 Meilen auf dem Amazonas«, Aufbau-­Verlag, ISBN 978-3-8477-2041-6

    Während Verne seine Romanfiguren auf einem 200 Meter langen, in Brasilien Jangada genannten Floß den wasserreichsten Fluss unserer Erde hinabschickte, bietet das 31 Meter lange Boutiqueschiff MS »Jangada« reichlich Komfort und lässt die Mitreisenden mithilfe zweier Expeditionsboote auch einige Seitenarme und Zuflüsse erkunden. Dies blieb den Floßfahrern damals verwehrt und so mussten sie auf dem oberen Flusslauf zwischen Tabatinga und Santo Antonio do Ica auch auf Begegnungen mit den indigenen Stämmen der Marubo und der Tikuna verzichten. Auch sechs Generationen später befahren nur sehr wenige Schiffe diesen westlichen Abschnitt des Amazonas, der hier den Namen Rio Solimoes trägt, sodass man als seltener Gast besonders herzlich von den Einheimischen empfangen wird.

    Schon kurz nach dem Ablegen in Tabatinga stoppt Kapitän Irailton die MS »Jangada« in Benjamin Constant, einem kleinen Ort, von dem aus man die etwa 20 Kilometer entfernten Marubo erreicht. An zwei einfachen Holzhütten endet die Fahrt mit dem Kleinbus. Ortsvorsteher (Cacique) Menempa erwartet die 14 Reisenden aus Deutschland, der Schweiz und Luxemburg bereits und hat seine Nichten Lara und Meira mitgebracht. Auch Tochter Heenne ist vor Ort, die ein ideales Abbild der legendären Amazonen abgeben könnte, nach denen Francisco de Orellana 1541/42 dem Fluss seinen Namen gab. Anmut, Klugheit und Kraft ausstrahlend begleitet sie die kleine Gästegruppe auf verschlungenen Regenwaldpfaden, erklärt dabei den medizinischen Nutzen einiger Pflanzen und zeigt, wie reichlich der Gabentisch des nahezu unberührten Primärwaldes mit Obst gedeckt ist. Dann stoppt sie an einem Annatto-Strauch, um sich mit dem leuchtenden Rot der Urucum-Blüten zu schminken. Zwei herabhängende Lianen ergreifend schwingt sie sich wie Tarzan oder Jane ein Stück an einem Baum hinauf und klärt schließlich die verdutzten Betrachter auf, dass sie ein Pädagogikstudium absolvierte und als Sportlehrerin arbeitet.

    Tiefer in das dichte Grün eindringend hält die Gruppe immer wieder inne, um dem orchestralen Lauten der Vogelwelt zu lauschen, bis an einer winzigen Lichtung ein für die Marubo heiliger Kapokbaum beeindruckender Größe auftaucht. Schützend bilden Menempa, Heene und die beiden Mädchen eine Kette vor der mächtigen Wurzel des über 40 Meter hohen Waldgiganten. Diese Geste der Entschlossenheit, ihren Lebensraum Regenwald zu erhalten, bedarf keines Dolmetschers. Schließlich gelangt die Gruppe an einen kleinen Weiler, wo Stammesmitglieder anhand von Brandmalen am Oberarm demonstrieren, welche Mutprüfungen Jungen zu bestehen haben, um in die Reihen der Männer aufgenommen zu werden. Einer von ihnen weist die Gäste in die Funktionsweise von Blasrohren als Jagdwaffe ein und Frauen und Mädchen bieten Naturschmuck zum Kauf an.

    »Brasilien hat den indigenen Völkern nach Ende der Militärdiktatur Anerkennung gezollt, indem etwa 13 Prozent des Staatsterritoriums zu indigenen Schutzgebieten mit weitgehender Selbstverwaltung erklärt wurden«, erläutert Reiseleiter Falko Petzold bei einem Vortrag an Bord der »Jangada«. Die rund eine Million Einwohner umfassende indigene Bevölkerung gliedert sich in 300 Stämme mit 220 Sprachen auf und macht rund ein halbes Prozent der 220 Millionen Brasilianer aus. Durch die Einbeziehung in das öffentliche Gesundheits- und Sozialsystem, inklusive Kindergeld und Rentenleistungen, ist eine gewisse Grundsicherung gewährleistet. Doch zwischen Gesetzgebung und Praxis klafft eine Lücke, die sich unter Präsident Bolsonaro weiter öffnete, sollen die Touristen später erfahren.

    Über lange Strecken führt die 1000 Seemeilen lange Fahrt in Richtung Manaus am indigenen Schutzgebiet der Tikuna entlang, die mit 60 000 Stammesmitgliedern die größte indigene Ethnie am oberen Amazonas bildet. Rufe von Papageien, Karakaras und Aras begleiten die Expeditionsboote auf dem Rio Ica, auf dem es zum indigenen Dorf Bethania geht. Von den Uferbäumen beäugen neugierig Fischadler, schillernde Eisvögel und die omnipräsenten Rabengeier die fremden Eindringlinge. Vom Flussufer schlängelt sich über Bohlen, Bretter und Zweige ein Pfad zum Gemeindehaus (Maloca) der Tikuna, deren Präsident Trovao es sich nicht nehmen lässt, die kleine Gästeschar persönlich zu begrüßen. Nahezu die ganze Dorfgemeinde ist zum Empfang auf den Beinen. Trommeln erklingen, Maskenträger führen die im Tanzrhythmus schwingende Prozession an. Dann folgt ein Ausschnitt aus dem Initiationstanz Moca Nova, mit dem Mädchen Aufnahme in die Reihen der Frauen finden. Ein gemeinsames Gastmahl mit reichlich gegrilltem Fisch, Reis, Maniok, Ananas, Bananen und Melonen beschließt die traditionelle Zeremonie. Man sieht den Dorfbewohnern an, dass sie ihr einfaches, aber ausgeglichenes Leben im Einklang mit der Natur nicht als Nachteil betrachten. »Probleme bereiten uns die illegalen Goldsucher, die unsere Flüsse und Erde verseuchen und von den Behörden geduldet werden«, spricht Präsident Trovao eines der aktuellen Probleme an. Auf Brasiliens aktuelle Regierung ist er nicht gut zu sprechen: »Man entscheidet über unsere Köpfe hinweg, und auch die uns zustehenden finanziellen Zuwendungen erfolgen schleppend und unregelmäßig«, kritisiert er.

    Nachdem die Ehrengäste aus dem fernen Europa die traditionelle Gesichtsbemalung erhalten und kleine Geschenke die Besitzer wechseln, leitet ein gemeinsamer Abschiedstanz den Aufbruch zurück zum Schiff ein. Delfine und aus dem Wasser springende Fische tauchen neben den Booten auf, Fischer holen ihren Fang ein, und die untergehende Sonne schmückt den Horizont über dem Fluss in leuchtenden Farben.

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