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»Unterdrückung ist nicht ihr Schicksal«

Die Soziologin Dilar Dirik sieht in der kurdischen Revolution vielversprechende Ansätze, um patriarchale Strukturen zu überwinden

  • Linda Peikert
  • Lesedauer: 9 Min.

2012 wurde in der nordsyrischen Stadt Kobanê eine Revolution ausgerufen. Das ist inzwischen zehn Jahre her. Sie wird oft auch als Frauenrevolution bezeichnet. Was bedeutet das?

Bei der Frauenrevolution als spezifische Revolution innerhalb der Revolution geht es darum, patriarchale Strukturen innerhalb der Gesellschaft zu überwinden. Das kann natürlich nicht an einem Tag passieren, denn die Menschen wachsen in dieser männerdominierten, sexistischen und frauenfeindlichen Gesellschaft auf. Das ist ein psychischer, ein sozialer und ein kultureller Prozess.

Interview

In dem Gebiet der autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens, das auch Rojava umfasst, erkämpfen sich die Frauen eine neue Rolle in der Gesellschaft: Als kollektive und autonome Kraft sind sie seit dem Ausruf der Revolution vor zehn Jahren maßgeblich an der Gestaltung des politischen und kulturellen Lebens beteiligt. Dilar Dirik ist politische Soziologin mit dem Forschungsgebiet kurdische Frauenbewegung an der britischen Universität Oxford und auch im neuen nd-Podcast »Ihr Wille als Waffe« zu hören. Mit ihr hat Linda Peikert gesprochen.

War die Entwicklung dieser Frauenrevolution überraschend?

Die Frauenrevolution in Nordsyrien hängt mit der langen Geschichte der kurdischen Frauenbewegung allgemein zusammen: Sie ist nicht plötzlich vor zehn Jahren entstanden. Sie basiert auf der Erfahrung von vier Jahrzehnten autonomer Frauenorganisation in Kurdistan, in vielen verschiedenen Teilen und auch in der Diaspora. Mit Rojava, also der autonomen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien, ergab sich ein Raum, in dem man diese Ideen in der Praxis umsetzen kann. Viele Menschen weltweit sahen Fotos von bewaffneten Kämpferinnen, die gegen den sogenannten Islamischen Staat gekämpft haben. Das allein macht aber keine Frauenrevolution aus: Von Anfang an war die Befreiung der Frau auch auf der politischen und kulturellen Ebene für den Aufbau eines neuen Gesellschaftsmodells in Nord- und Ostsyrien wichtig.

Wie werden die Frauen denn in die verschiedenen Gesellschaftsbereiche eingebunden?

Die Frauen in Nord- und Ostsyrien sind als organisierte Kraft in allen Bereichen der gesellschaftlichen und der politischen Arbeit eingebunden. Es gibt autonome Frauenstrukturen. Diese können die allgemeinen Strukturen mit einer Frau und einem Mann als Vorsitzende kritisieren. Sie haben ein Vetorecht. Aber die allgemeinen Strukturen können sich wiederum nicht in die Arbeit der Frauen einmischen. Das sind Mechanismen, die dazu führen, dass sich die Frauen autonom und unabhängig organisieren können.

Warum sind solche autonomen Frauenstrukturen für die Region überhaupt wichtig?

Man versucht aus der Geschichte zu lernen: An verschiedenen Orten der Welt haben sich Frauen an revolutionären Befreiungskämpfen, an antikolonialen Kämpfen oder Kämpfen gegen den Faschismus, wie zum Beispiel auch in Europa, beteiligt. Sobald der Kampf vorbei war, wurden die Frauen wieder in ihre häuslichen Strukturen gestopft. Und das wollen die revolutionären Kräfte in Nord- und Ostsyrien verhindern. Deshalb sollen Frauen nicht nur als Individuen an diesen Prozessen teilnehmen, sie müssen auch eine organisierte Kraft darstellen.

Wie reagieren die Männer auf die neue Rolle der Frauen in Nord- und Ostsyrien?

Von Anfang an haben viele Männer diesen Prozess unterstützt. Der gesellschaftliche Wandel hätte ohne die Solidarität eines Teils der Männer nicht so leicht funktioniert. Es gab aber natürlich auch negative Reaktionen: Zum Beispiel stellen sich Männer, also Ehemänner, Brüder oder Väter, dagegen, dass sich Frauen aus ihrer Familie organisieren. Sie sehen es als einen Angriff auf ihre Ehre als Mann. Viele lokale Aktivistinnen vermuten sogar, dass deshalb die Gewalt gegen Frauen gestiegen ist. Ich habe während meiner Forschung vor Ort auch mit sehr vielen Männern Interviews geführt und bemerkt, dass viele einerseits stolz auf diese Errungenschaften der Frauen sind. Aber teilweise haben sie auch Angst, ihre eigene Macht oder ihren Status innerhalb der Gesellschaft zu verlieren. Dann gibt es natürlich auch Männer, die sagen, dass sie stolz auf die Kämpferinnen seien, die gegen den sogenannten Islamischen Staat gekämpft haben, aber niemals wollen würden, dass Frauen aus ihrer eigenen Familie solche Rollen übernehmen.

Wie wird mit dieser Angst der Männer umgegangen?

Da gibt es verschiedene Herangehensweisen: Die Medien vor Ort haben bestimmte Programme, die sich mit der Frauenbefreiung auseinandersetzen. Außerdem gibt es Filme und mittlerweile auch Musik, die sich mit dieser Thematik beschäftigt. Damit wird versucht, den Frauenkampf mit kulturellem Angebot zu normalisieren. In der Bildung ist das ebenfalls der Fall. Die Frauenbewegung vor Ort versucht, mit pädagogischen Maßnahmen zu vermitteln: Die Herzen der Menschen müssen sich ändern, damit sich die Gedanken ändern und die Frauenrevolution kein mechanischer Prozess bleibt. Dass nicht nur Gesetze verfasst werden, in denen steht, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Der patriarchale Mann soll sich verändern. Und dazu gehört auch, dass sich die Frau weiterentwickelt. Männer und Frauen, die sich in den politischen Strukturen organisieren möchten, besuchen deshalb regelmäßig Seminare zur Frauenbefreiung und zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Patriarchat.

Die Befreiung der Frau soll möglichst viele Frauen aus der Region erreichen. In Nord- und Ostsyrien gibt es allerdings viele kleine Dörfer, die auf mich einen relativ abgeschnittenen Eindruck gemacht haben. Wie werden die Frauen denn dort erreicht? Verändert sich auch das Leben der Frauen in Dörfern durch die Frauenrevolution?

Ja, es gibt viele kleine, schwer erreichbare Dörfer. Deshalb gehen die Aktivistinnen der Frauenstrukturen zu den Häusern, klopfen an deren Türen und stellen ihre Arbeit vor. Sie fragen die Frauen, ob sie sich einbringen möchten. Und oft kommt als Antwort: »Ja, aber mein Mann will das nicht« oder »ich habe doch Kinder, was soll ich mit den Kindern machen?«. Die Frauenstrukturen haben versucht, in den letzten zehn Jahren sehr viele Kindertagesstätten und Aktivitäten für Kinder zu schaffen, damit sich Frauen politisch und kulturell einbringen können. Aber die Genderstrukturen sind noch nicht überwunden. Viele Menschen mögen die Rollen, in denen sie sind. Viele Frauen passen gerne auf ihre Kinder auf. Da stellt sich natürlich niemand dagegen. Man versucht nur, diese Arbeit etwas aufzuteilen und zu normalisieren, dass zum Beispiel auch Männer ab und zu mal die Kinder hüten.

Werden die Angebote der Aktivistinnen denn dann überhaupt angenommen?

Sehr viele Frauen haben mithilfe der Frauenstrukturen neue Wege gefunden. Es gibt Frauen, die in der gleichen Nachbarschaft wohnen, die auch teilweise miteinander verwandt sind und sowieso zusammen arbeiten würden. Sie haben mit der Unterstützung des Frauendachverbands Kooperativen gegründet. Somit haben sie ein garantiertes Einkommen. Das ist eine Möglichkeit, nicht so abhängig von einem Mann zu sein oder sogar seine Gewalt ertragen zu müssen. Außerdem wird versucht, aktiv Frauen zu motivieren, dass sie auch einen Wert darin sehen, sich politisch zu engagieren. Dass sie Politik als etwas ansehen, das nicht nur Männersache ist. Bei Kultur genauso. Die Idee dahinter lautet: Du als Frau, ob du dich so definierst oder einfach allgemein als Individuum, kannst auch etwas schaffen. Auch wenn du nie zur Schule gegangen bist, auch wenn du sehr viele Kinder hast. Deine Stimme kann hier gehört werden, du kannst dich hier weiterentwickeln und dich befreien. Und dabei befreist du auch andere Frauen.

Von welcher Errungenschaft der Frauenrevolution profitieren die Frauen vor Ort Ihrer Meinung nach am meisten?

Ich denke, vielleicht ist eine der größten Bereicherungen für Frauen und Mütter innerhalb der Zivilgesellschaft die Tatsache, dass es jetzt sehr viele Anlaufstellen gibt, zu denen sie gehen können, wenn sie Probleme haben. Dass sie wissen, es gibt dort eine organisierte Frauenkraft, die sich um sie kümmern wird. Die explizit auf ihrer Seite steht – und nicht auf der des Patriarchats. Vor allem, wenn es um sexualisierte oder häusliche Gewalt geht. Denn das ist ein Problem, das Frauen auf der ganzen Welt haben: Sie vertrauen dem Justizsystem, dem Staat und der Polizei nicht. Vor allem in der Region passiert es immer wieder, dass Frauen, die häusliche Gewalt erfahren oder die vergewaltigt werden, selbst beschuldigt werden. Das konnte mit der Frauenrevolution aufgebrochen werden.

Dieser Aufbau eines neuen Gesellschaftskonzepts hört sich für die Frauen vor Ort vielversprechend an. Doch Nord- und Ostsyrien ist ja immer wieder verschiedenen Angriffen ausgesetzt. Gelten diese Angriffe auch der Frauenrevolution?

Seit 2018 hat vor allem die Türkei angefangen, Nord- und Ostsyrien anzugreifen. Es gab völkerrechtswidrige Invasionen mit anschließenden Besatzungen. Ein Krieg, der von der zweitgrößten Nato-Armee geführt wird. Es ist nicht möglich, gegen die Angriffe der Türkei lange Widerstand zu leisten, vor allem, weil die türkische Armee auch Anhänger islamistischer Gruppen wie Al Qaida oder des sogenannten Islamischen Staats nutzt. Die türkische Regierung finanziert sie und lässt sie ausbilden, um diesen Kampf zu führen. Die revolutionäre Bewegung vor Ort definiert diesen Krieg als einen Genozid und einen Femizid. Damit ist gemeint, dass Frauen spezifisch angegriffen werden: Zum Beispiel werden die Körper der toten Kämpferinnen besonders verstümmelt, aber auch nackt gefilmt. Das sind Methoden, um Frauen zu bestrafen, weil sie sich dort organisiert haben.

Wie hat sich die Lage der Frauen in den türkisch besetzten Gebieten denn konkret verändert?

Auf den Straßen sind keine Frauen mehr zu sehen. Wenn man sie sieht, dann sind sie verschleiert. Früher hatten Frauen das Stadtbild geprägt. Es gab große Veranstaltungen zum Weltfrauentag am 8. März. Seit der Besatzung wurden die Institutionen der Frauen, auch die gegen häusliche Gewalt, geschlossen. Jetzt gibt es keine Frauen in der Politik und den Medien mehr. Dafür wird von zahlreichen jungen, verschwundenen Mädchen berichtet. Darin zeigt sich deutlich, dass die Angriffe der Türkei, die gemeinsam mit islamistischen Gruppen geführt werden, Frauen und die Errungenschaften der Frauenrevolution vernichten.

Die Angriffe der Türkei sind auf niedriger Intensität konstant, auch eine erneute Invasion ist nicht auszuschließen. Woher nehmen die Frauen die Zuversicht und stecken weiterhin so viel Kraft in die Weiterentwicklung der Frauenrevolution?

Ich denke, es gibt den Frauen Kraft zu sehen, dass sich ihr Leben verändern kann und Unterdrückung nicht ihr Schicksal ist. Sie müssen nicht Gewalt in ihrem Leben akzeptieren. Es gibt ein Sprichwort: »Wer einmal die Freiheit gespürt hat, kann von ihr nicht mehr ablassen«. In einer Region, in der eine Vergewaltigung teilweise ein Grund ist, die Frau anschließend umzubringen, gibt die gegenseitige Unterstützung der Frauen besonders viel Sicherheit und Kraft. Natürlich bedeutet dieser Kampf der Frauen nicht nur Kraft, sondern auch sehr viel Aufopferung und sehr viel Schmerz. Deswegen darf man diese Willenskraft, die man dort sieht, nicht romantisieren.

Der Rojava-Podcast »Ihr Wille als Waffe« ist mit diesem QR-Code abrufbar:

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