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Pharma gemeinnützig machen
Der Schweizer Autor Beat Ringger über das Versagen einer ganzen Industrie
Nehmen Sie selbst Medikamente?
Der Schweizer Autor Beat Ringger, geboren 1955, war Volksschullehrer, Entwickler bei IBM, Gewerkschaftssekretär und Geschäftsleiter des linken Thinktanks Denknetz. Sein neues Buch »Pharma fürs Volk« analysiert das Versagen der Pharmaindustrie. Es ist im Oktober 2022 im Zürcher Rotpunktverlag erschienen. Mit Ringger sprach Eric Breitinger.
Ich habe Reflux und viele Jahre Omeprazol eingenommen, um die Magensäure einzudämmen. Dann bekam ich aus dem Nichts eine Lungenentzündung. Laut einer Ärztin hatten sich im Magen wegen der Omeprazoleinnahme Keime einnisten können, die dann in die Lunge gelangten. Omeprazol kann bei der Dauereinnahme überdies auch Alzheimer, Demenz, Krebs oder Osteoporose auslösen. Ich wechselte zu einem anderen Medikament mit weniger Nebenwirkungen. Doch plötzlich gab es das nicht mehr. Große Chargen des Wirkstoffes waren bei der Produktion in China mit krebserregenden Stoffen verseucht worden. Statt das Problem zu beheben, zogen die Hersteller, die sich aus Kostengründen alle vom gleichen Wirkstoffhersteller beliefern ließen, das Medikament einfach vom Markt zurück.
Freuen Sie sich nicht trotzdem, dass es Medikamente gibt, die Ihnen helfen?
Medikamente sind eine herausragende Errungenschaft. Mein Beispiel veranschaulicht aber auch einen Aspekt der neuen Arzneimittelkrise. Bei immer mehr Medikamenten gibt es Lieferprobleme oder sie verschwinden ganz vom Markt, nur weil sie nach den Maßstäben der Pharmakonzerne und der Finanzmärkte nicht mehr genug Gewinn abwerfen.
Wo sehen Sie weitere Anzeichen dieser Krise?
Bei den hohen Preisen für neue Medikamente. So liegen die Herstellungskosten von Sovaldi und seinen Nachfolgepräparaten gegen Hepatitis C bei weniger als 200 Euro pro Gesamtbehandlung. Die Hersteller verlangten aber anfangs 80 000 Euro pro Behandlung, heute sind es immer noch 30 000 Euro. In nur drei Jahren machte Gilead Services mit Sovaldi 20 Milliarden Dollar Gewinn. Und die Preisspirale beschleunigt sich: 2018 lag der Durchschnittspreis eines neuen Medikaments pro Packung in Deutschland bei unter 5000 Euro. In nur zwei Jahren ist er auf über 40 000 Euro geklettert. Die Profitraten von Big Pharma steigen parallel dazu. Das neue Ziel heißt 40 Prozent.
Warum ist das so?
Pharmakonzerne haben sich von forschenden Arzneimittelherstellern zu finanzgetriebenen Vertriebs- und Marketingkonzernen gewandelt. Sie orientieren sich in erster Linie an den Finanzmärkten. Beispiel: Im November 2021 hat Roche eigene Aktien im Wert von 19 Milliarden Schweizer Franken zurückgekauft und vernichtet. Der Konzern wollte so seinen Aktienkurs hochtreiben. Nur wenige Wochen später hat Novartis ebenfalls für 15 Milliarden US-Dollar eigene Aktien zurückgekauft und genau dasselbe gemacht – anstatt in Forschung und Entwicklung von neuen Medikamenten zu investieren. Ohnehin forschen die Pharmakonzerne immer weniger selbst, sondern kaufen kleinere Firmen, die aus der universitären Forschung entstanden sind und neue Wirkstoffe in der Pipeline haben. Fast jedes neue Medikament hat heute einen solchen Ursprung.
Sie machen die Pharmabranche in Ihrem Buch auch für die Antibiotikakrise verantwortlich. Mit welcher Begründung?
Jedes Jahr sterben rund fünf Millionen Menschen an oder mit antibiotikaresistenten Keimen – Tendenz steigend. Die Resistenzen entstehen, weil Keime lernen, die Wirkung der Antibiotika zu umgehen. Ursachen hierfür sind der viel zu häufige Einsatz der Präparate zum Beispiel in der Tiermast ebenso wie die Tatsache, dass indische Wirkstoffhersteller ihre Abwässer nicht reinigen. Umso dringender wäre die Entwicklung neuer Antibiotika – doch die Konzerne tun nichts.
Ihre Vertreter sagen, die Preise für neue Antibiotika sind zu niedrig. Das lohne sich nicht.
Genau. Die Konzerne warten, bis sie Packungspreise von 100 000 Euro durchsetzen können. Damit würden dann weitere Gewinn-Milliarden an die Pharmabranche fließen. Die neuen Antibiotika wären aber nur in westlichen Ländern verfügbar, und wohl selbst da nicht für alle. Menschen in ärmeren Ländern bekämen sie ohnehin nicht. Auch dieses Beispiel zeigt: Wir brauchen eine Pharmaindustrie, die am Gemeinwohl orientiert ist.
Was meinen Sie damit?
Die öffentliche Hand finanziert heute schon die Grundlagenforschung für Medikamente, etwa an Universitäten, Uni-Spitälern oder in öffentlichen Labors. In den USA pumpen die staatlichen National Institutes of Health jedes Jahr 40 Milliarden Dollar in die Forschung und sind an praktisch allen neuen Arzneimitteln beteiligt. Sobald etwas Vielversprechendes aus der Grundlagenforschung kommt, sichern sich die Konzerne die Patente und machen daraus hochprofitable Präparate. Das könnte aber auch ein Verbund von öffentlichen, gemeinnützigen Pharmafirmen machen, eine Pharma fürs Volk.
Wie wollen Sie das erreichen?
Man muss die Handlungsmacht der Pharmaindustrie durch neue Regeln eindämmen. Aber das greift nur, wenn ein solcher öffentlicher Medikamenten-Verbund aus Unis, Forschungseinrichtungen und gemeinnützigen Firmen existiert. Dieser Verbund soll neue, patentoffene Medikamente zu Preisen entwickeln, die sich an realen Kosten orientieren. Organisationen, die hier Erfahrungen haben, gibt es bereits. Zum Beispiel hat die Genfer Stiftung »Drugs for Neglected Diseases Initiative« seit 2003 neun günstige Medikamente gegen Tropenkrankheiten entwickelt. Ein Kombi-Präparat gegen Malaria kostet weniger als einen Dollar. Der gemeinnützige Verbund sollte sich aber nicht nur um von der Pharmaindustrie vernachlässigte Krankheiten kümmern, sondern auch um »lukrative« Leiden wie Krebs oder Immunkrankheiten. Er muss so mächtig werden, dass die gewinnorientierte Pharmabranche die Regulierungsbehörden nicht mehr länger erpressen kann.
Werden sich die Pharma-Konzerne nicht gegen alles wehren, was ihre Macht beschneidet?
Sachlich können wir einen gemeinwohlorientierten Medikamenten-Verbund morgen realisieren, wenn wir wollten. Aber natürlich werden die Konzerne das zu verhindern versuchen. Doch die neue Arzneimittelkrise nimmt immer drängendere Formen an. Neuerdings bekommen auch im Norden längst nicht mehr alle Menschen die Medikamente, die sie brauchen. Der Druck steigt, Alternativen zu entwickeln. In den USA wird gegen Lieferengpässe und -ausfälle gegenwärtig eine neue, gemeinnützige Produktion von Standardmedikamenten hochgefahren – für eine Milliarde US-Dollar. Wenn wir Schub geben wollen, reicht es schon, wenn wir die Ergebnisse der öffentlichen Grundlagenforschung privilegiert einem Pharma-fürs-Volk-Verbund zukommen lassen.
Bräuchte es eine Übergewinnsteuer für Pharmakonzerne?
Eine gute Idee. Man könnte Konzerngewinne über zehn Prozent als Übergewinn besteuern. Das wäre eine weitere Quelle, um die nicht profitorientierte Entwicklung von Medikamenten mitzufinanzieren.
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