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Nudelwerker gehen auf Abstand zum Mindestlohn
Siebenwöchiger Streik in Riesa endet mit Anhebung des Stundenlohns. Branche in Sachsen vor weiteren Tarifverhandlungen
Sachsen war lange Zeit ein Billiglohnland. CDU-geführte Landesregierungen warben mit dem Argument, dass Beschäftigte im Freistaat unterdurchschnittlich wenig verdienen, um die Gunst weiterer Investoren. Das sei vorbei, sagte DGB-Chef Markus Schlimbach kürzlich. Es liegt allerdings nicht daran, dass Arbeitgeber erkannt hätten, dass gute Bezahlung die Motivation hebt, dem Fachkräftemangel entgegenwirkt und die Kaufkraft stärkt. Vielmehr ist der Wandel dem Gesetzgeber zu verdanken: Sachsen sei jetzt, sagte Schlimbach, ein »Mindestlohnland«.
Mehr als das Mindeste zahlen Firmenchefs vielfach immer noch nicht. Von der Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro ab 1. Oktober waren in einigen Regionen Ostdeutschlands vier von zehn Beschäftigten betroffen. Sie sind in Betrieben wie der Teigwaren Riesa GmbH tätig, deren Spaghetti, Makkaroni und Spirelli bei Kunden äußerst populär sind, deren Mitarbeiter etwa im Bereich Verpackung aber für ihre Arbeit im anstrengenden Dreischichtsystem bisher lediglich 12,51 Euro pro Stunde erhielten. Davon, merkten Vertreter der Gewerkschaft NGG an, könne man weder gut leben noch eine armutsfeste Rente aufbauen.
Künftig erhalten die 140 Beschäftigten mehr Geld: Die Stundenlöhne steigen um zwei Euro pro Stunde. Zu verdanken ist das nicht vorweihnachtlicher Milde im Management oder bei den Eigentümern, die in Baden-Württemberg leben und dort mit der Albgold GmbH zwei weitere Nudelfabriken betreiben. Die Lohnanhebung ist vielmehr Ergebnis eines siebenwöchigen Streiks, der die Produktion in Riesa vollständig zum Erliegen brachte und dessen Kosten die Geschäftsleitung schon nach vier Wochen auf bis zu eine Dreiviertelmillion Euro bezifferte. Dennoch weigerte sich das Management lange, auf die Forderungen der Belegschaft einzugehen. Mit seiner »Basta-Politik« werde mehr Geld verbrannt, als die Lohnanhebung über ein Jahr hinweg kosten würde, rechnete die Gewerkschaft vor.
Dass es nun doch zu einer Einigung kam, ist neben der Beharrlichkeit und dem Mut der Mitarbeiter dem Geschick zweier Vermittler zu danken, darunter mit Matthias Platzeck der frühere SPD-Ministerpräsident von Brandenburg. Auch öffentlicher Druck mag eine Rolle gespielt haben. Zuletzt war eine Abordnung der Belegschaft in der SPD-Landeszentrale in Dresden mit Abgeordneten von SPD, Linken, Grünen und CDU zusammengetroffen. Am 9. November, dem Jahrestag des Mauerfalls, hatte es in Berlin eine symbolträchtige Aktion zur Beseitigung der »Lohnmauer« zwischen Ost und West gegeben.
Diese bleibt nach wie vor bestehen: Die Löhne in Riesa steigen noch lange nicht auf Westniveau. In der Lebensmittel- und Genussmittelherstellung verdienen Beschäftigte in Westdeutschland monatlich im Schnitt 3372 Euro, in Sachsen 750 Euro weniger. In Riesa gibt es ab 1. Dezember aber immerhin zunächst einen Euro pro Stunde mehr, zwei weitere Anhebungen um je 50 Cent folgen im Juli und Dezember 2023. Vereinbart wurde außerdem eine monatliche Inflationsprämie von 50 Euro. Nach NGG-Angaben beläuft sich das monatliche Lohnplus auf 346 Euro. Damit sei »ein wichtiger Schritt heraus aus dem Niedriglohn getan«, sagte Uwe Ledwig, der Vorsitzende der NGG Ost und fügte an: »Wir brauchen einen Mindestlohnabstand und eine Schließung der Lohnlücke zu vergleichbaren Betrieben in Westdeutschland.«
Die Gewerkschaft erhofft sich von dem erfolgreichen Arbeitskampf Rückenwind für weitere anstehende Tarifverhandlungen in der Branche. Betroffen sind unter anderem das Ölwerk Cargill in Riesa, das Tiefkühlwerk von Frosta in Lommatzsch, das Margarinewerk Vandemoortele in Dresden und ein Werk des Unilever-Konzerns im vogtländischen Auerbach, in dem Produkte der Marke Knorr hergestellt werden. »Der Erfolg von Teigwaren Riesa sollte ein Signal für andere Betriebe sein«, sagte Ledwig. Die Landeschefs der Linkspartei in Sachsen, Susanne Schaper und Stefan Hartmann, äußerten sich ähnlich. Sie billigten der Riesaer Belegschaft den Titel »Arbeitskampflegende« zu und erklärten, deren Durchhaltewillen und Erfolg seien »mit Sicherheit Ansporn und Vorbild« für andere Belegschaften.
Das war zumindest in der Vergangenheit der Fall. In der Riesaer »Nudelbude«, wie das Werk von den Beschäftigten genannt wird, wurde 2018 ein Betriebsrat gegründet, der anschließend mithilfe mehrerer Warnstreiks zunächst im Mai 2019 einen Manteltarifvertrag durchsetzte und später auch eine Einigung bei Löhnen und Gehältern erreichte. Die Situation wurde nicht gerade erleichtert durch den Umstand, dass es in den beiden Werken im Westen weder Betriebsrat noch Tarifvertrag gibt. Die damaligen Kampfaktionen sorgten überregional für Schlagzeilen, weil die Nahrungsgüterbranche – im Unterschied etwa zur Metall- und Elektroindustrie – zuvor lange Zeit nicht durch großen Widerstandsgeist aufgefallen war und sich viele Beschäftigte in Ostdeutschland, geprägt durch die hohe Arbeitslosigkeit der 1990er Jahre, mit geringeren Löhnen und schlechteren Arbeitsbedingungen zufriedengegeben hatten. Der Streik in Riesa wirkte damals wie ein Aufbruchssignal. Danach gab es Arbeitskämpfe in vielen sächsischen Betrieben der Branche, darunter bei Bautzner Senf, Knorr Auerbach und in der Sternquell-Brauerei Plauen. Womöglich haben die Nudelwerker in Riesa nun auch zwei Jahre später den Ton für die neue Tarifrunde gesetzt.
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